Gesandter in der Botschaft in Österreich, dann Direktor des dritten Europäischen Departements des Außenministeriums in Moskau, nun seit 2015 Botschafter der Russischen Föderation in Wien: Der langjährige Diplomat Dmitrii Liubinskii (55) kennt Österreich, und er kennt den Ist-Zustand der Europäischen Union.

Die Fragen zum Interview beantwortete der Botschafter schriftlich – aber es kam auch zu einem hochinteressanten direkten Gespräch in der Botschaft über die aktuelle Krisensituation, das der eXXpress hier vor den offiziellen Fragen und Antworten veröffentlicht.

Seit 2015 Botschafter der Russischen Föderation in Wien: Dimitrii Liubinskii.

"Niemand wollte etwas von den Interessen Russlands hören"

Im Botschaftspalais in der Nähe des Belvederes macht der russische Botschafter im Gespräch eine Pause und fragt dann: “Russland-Versteher. Russland-Versteher, das ist jetzt ein Schimpfwort? Aber warum ist es so schlimm, Russland zu verstehen?” Dimitrii Liubinskii sagt dann: “Ich bin ein Gestalter mit einer sehr positiven Einstellung. Es gibt immer Differenzen, aber wir führen unseren Dialog immer offen. Jetzt scheint es, als leben wir plötzlich in einer anderen Welt.”

Der Botschafter will dabei auch die Vorgeschichte zur Spezialoperation der russischen Streitkräfte in der Ukraine erzählen: “Niemand interessierte sich für 14.000 getötete Menschen im Donezk-Gebiet, niemand interessierte sich im Westen Europas 20 Jahre lang für die Interessen Russlands, eines wichtigen europäischen Landes. Das wurde nie ernst genommen. Ende Dezember sollte es erneut zu Gesprächen über eine neue europäische Sicherheits-Architektur kommen, wir haben ein neues Abkommen auf den Tisch gelegt – aber niemand wollte darüber sprechen. Deshalb begann dann die begrenzte militärische Operation.”

eXXpress-Chefredakteur Richard Schmitt beim Interview in der Botschaft.

Botschafter analysiert: "Europa geht aufs Ganze"

Selbstverständlich die wichtigste Frage von eXXpress-Chefredakteur Richard Schmitt war, wie denn nun Europa wieder rasch zu einem friedlichen Miteinander finden kann. Der russische Botschafter dazu: “Wer spricht denn jetzt in Europa von Frieden? Die EU spricht von einem ,Sieg der Ukraine’, von ,unbegrenzter Solidarität mit der Ukraine’. Man liefert immer schwerere Waffen, übergeht alle Prinzipien der EU. Und man verspricht der Ukraine eine unmöglich große Menge an Geld – was passiert mit diesem Geld? Selenskyj braucht einmal neun Milliarden Euro, dann wieder acht Milliarden. Und wir wissen: Nur ein Teil der Waffen geht an die Ukraine, viele landen in anderen Krisenregionen.”

Und Dimitrii Liubinskii glaubt nicht an eine Bereitschaft der EU zum Frieden: “Europa geht aufs Ganze. Die Anti-Russland-Politik ist ein wichtiger Baustein dafür, die Europäische Union zu einen – gegen einen gemeinsamen Feind von Außen.”

Auf die Frage, ob denn eine Parteinahme der EU für die Ukraine nicht nachvollziehbar sei, wenn ganz Europa die Bilder des Massakers in Bucha gesehen hat, meinte der Diplomat: “Das war eine tolle Inszenierung westlicher Geheimdienst. Die Fotos sind bewegend. Aber: Unsere Truppen waren schon abgezogen, als das passiert ist.”

eXXpress-Chefredakteur Richard Schmitt blieb aber auf diesem wichtigen Thema und fragt, warum nicht eine unabhängige Untersuchungskommission des Roten Kreuzes oder der UNO dazu Klarheit bringen könnte. Der Botschafter: “Wer dokumentiert das? Kann man sich eine unvoreingenommene Untersuchung vorstellen? Nein. Wir bräuchten zuvor wieder das Vertrauen zu diesen Institutionen. Außerdem: In den westeuropäischen Staaten haben alle schon ihr Urteil gefällt.”

Wien wird sicher nicht Ort für Friedensverhandlungen

Auch die russische Regierung dürfte schon ein Urteil über die Auslegung der Neutralitäts-Rolle durch die österreichische Bundesregierung gefällt haben. So meinte der Botschafter dazu sehr klar: “Die Neutralität Österreichs steht nicht zu Disposition. Wir verfolgen sehr aufmerksam jede konkrete Entscheidung der österreichischen Regierung, und wir werden unsere Schlussfolgerungen an konkreten Taten messen.”

Die Neutralität sei “eine Erfolgsgeschichte Österreichs”, betonte der russische Botschafter: “Wien hat in der Diplomatie immer ein großes internationales Renommee genossen. In der jetzigen Krise ist Österreichs Diplomatie aber nicht gefragt.” Warum? “Aufgrund der Handlungen der Bundesregierung. Wir sind an konstruktiven Beziehungen interessiert. Und wir haben auf unfreundliche Aktionen der österreichischen Bundesregierung reagiert.” Der Diplomat sagt dann noch: “Aber wir werden auch diese Phase überleben.”

Der Präsident der russischen Föderation Wladimir Putin mit Verteidigungsminister Sergej Shoigu

"Die Stimmung ändert sich."

Und noch in einem weiteren Punkt kritisiert der Botschafter Russlands die schwarz-grüne Regierung: “Die jahrelange Lieferung von Gas ist eine Erfolgsgeschichte, auch für den österreichischen Wohlstand. Diese Partnerschaft wird jetzt von der österreichischen Regierung zerstört – wir hören andauernd, man will die Gas-Importe einstellen, die Abhängigkeit beenden. Was ist so schlimm daran, die vertraglich zugesagte Gas-Menge zu bekommen?”

Natürlich durfte eine für alle Europäer wichtige Frage nicht fehlen: Was sind die Ziele der Kreml-Führung in diesem aktuellen militärischen Konflikt – würden die russischen Panzer bei einer Niederlage der Ukraine bis Tschechien rollen? Oder noch weiter? “Was wollen wir in Europa? Warum sollten wir weiter gehen? Wozu?”, antwortet darauf der Botschafter. Und: “Wir sind jetzt in einem Wirtschaftskrieg der EU gegen Russland. Aber die Stimmung ändert sich, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Die Menschen sind nämlich klüger, als das manche hoffen.”

Das komplette Interview

Hier finden Sie noch alle schriftlichen Antworten zu allen Fragen im Interview mit Botschafter Dimitrii Liubiskii:

In dieser Situation des Krieges in Europa denken viele Österreicher sehr intensiv über unsere Zukunft nach – wie kann es wieder zu Weiterführung der bis Februar des Jahres sehr guten Beziehungen zwischen Russland und Österreich kommen?

Wir haben eine lange, vielseitige Geschichte unserer bilateralen Beziehungen, der gegenseitigen Verbindungen zwischen den Völkern aber auch Kulturen unserer Länder. Seit über 500 Jahren. Die kennt sowohl blühende Zeiten als auch gut bekannte dunkelste Seiten im 20. Jahrhundert.

Seit dem Beginn der militärischen Spezialoperation in der Ukraine hat die politische Führung Österreichs ihre unbegrenzte Solidarität mit dem jetzigen Kiewer Regime mehrmals und eindeutig zum Ausdruck gebracht. Und dadurch viele positive gemeinsame Errungenschaften der letzten Jahrzehnte faktisch durchgekreuzt. Die allumfassenden rechtswidrigen Sanktionen gegen Russland sind von Wien aus in vollem Maß unterstützt und mitgetragen.

Unsere Diplomaten wurden ohne jegliche Begründung ausgewiesen, übrigens im Widerspruch mit politischen Erklärungen davor.

Russland wird beschuldigt für alle Krisen der Welt verantwortlich zu sein, unter anderem auch für die Energie- und Lebensmittelkrise. Dass die wahren Gründe dafür viel tiefer und breiter ausgelegt sind, einen komplexen Charakter haben und in vielen Hinsichten durch eine unvorsichtige und nicht durchgedachte Sanktionspolitik selbstverschuldet sind, scheint niemanden zu kümmern.

Die zwei auf Initiative Österreichs stattgefundene Kontakte zwischen dem Präsidenten Russlands und dem österreichischen Bundeskanzler (Moskauer Besuch am 11. April und Telefongespräch am 27. Mai) waren praktisch nur der Ukraine gewidmet und haben offen gesagt nichts bewegt. Ansonsten ist der Dialog zwischen Wien und Moskau auf politischer, kultureller oder zivilgesellschaftlicher Ebene praktisch auf Eis gelegt und nicht von unserer Seite. Für mich als Botschafter ist es vollkommen enttäuschend. Aber es ist die heutige Realität.

Einen Neuanfang kann es gewiss geben. Dafür bedarf es aber einiger Voraussetzungen.

1. Vieles in unseren Beziehungen ist niedergerissen, es gibt aber noch Brücken, die uns verbinden. Diese dürfen auf keinen Fall verbrannt werden. („Cancel Russia“)

2. Die gesamteuropäische Lage. Österreich ist fester Bestandteil der europäischen Gemeinschaft und kann daraus nicht herausgetrennt werden. Der Wirtschafts- und Informationskrieg muss aufhören.

3. Abhängigkeit von der innenpolitischen Lage in Österreich, politische Kräfte, die an guten und konstruktiven Beziehungen mit Russland interessiert bleiben.

Die Russlandhetze ist überall in Österreich spürbar, aber ich bin überzeugt, dass diese nicht von der Mehrheit der österreichischen Gesellschaft geteilt oder mitgetragen wird.

Ich habe auch bemerkt, dass jetzt das Wort „Russlandversteher“ zunehmend in den Alltagsgebrauch findet, und zwar als Schimpfwort. Dabei stellt sich die Frage, was denn daran so schlecht ist, wenn jemand Russland, China oder Amerika gut versteht? Und was erwartet uns dann, sollten die Russland-Nichtversteher die Oberhand in der Politik hier gewinnen?

Unsere langjährigen kulturellen Beziehungen können als eine wichtige Stütze für die Wiederbelebung unserer bilateralen Beziehungen dienen. Umso trauriger war es im Laufe der letzten Monate, die zügellosen Hetzkampagnen gegen prominente russische Kulturschaffende (Valerij Gergiew, Anna Netrebko, Teodor Currentzis) in den österreichischen Medien und Öffentlichkeit zu beobachten.

Ich sehe hierzulande aber auch Tendenzen die Hoffnung machen – immer stärker werden die Stimmen derer, die das trendige „Canceln“ der russischen Kultur ablehnen. Zum Thema der Cancel-Culture in der österreichischen Geschichte habe ich übrigens vor kurzem einen Beitrag verfasst, dass allen führenden österreichischen Printmedien zur Veröffentlichung angeboten wurde. Trotz großem Interesse haben sie alle abgelehnt, soviel zur Meinungspluralität in Österreich.

Eine wichtige Konstante soll auch unser gemeinsames zum Gedenken an die Opfer des 2. Weltkriegs bleiben. Die in Österreich etablierte hohe Erinnerungskultur bereitet dafür ein exzellentes Fundament.

Die Lage um die Gedenkkultur in Österreich betrachte ich als zwiespältig. Einerseits setzt sich unsere reguläre Kooperation mit den österreichischen offiziellen Stellen im Bereich Pflege und Aufrechterhaltung von sowjetischen Kriegsgräberanlagen fort. Auf beschämende Einzelfälle des extremistischen Aktionismus, wie das Symbol des ukrainisch-nationalistischen Bataillons „Asow“ an der Mauer hinter dem sowjetischen Denkmal am Schwarzenbergplatz im Mai dieses Jahres, reagiert die österreichische Polizei stets schnell und hochprofessionell.

Andererseits aber gibt es besorgniserregende Tendenzen, wie zum Beispiel die Ausladung russischer und weißrussischer offizieller Delegationen von den jährlichen Gedenkfeierlichkeiten im ehemaligen KZ Mauthausen oder die Rücknahme der Einladung zur traditionellen Kuratoriumssitzung des Österreichischen Schwarzen Kreuzes – einer Organisation, mit der wir immer eine sehr erfolgreiche Zusammenarbeit im Bereich Kriegsgräberfürsorge betrieben haben. Es bleibt uns die Hoffnung, dass solche Tendenzen überwunden und die schon erwähnte hohe Erinnerungskultur Österreichs nicht trüben werden.

Was wäre Ihrer Meinung nach nötig, um einen Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien verhandeln zu können?

Die Vorschläge Russlands zu der Beendigung des Konfliktes liegen bereits seit geraumer Zeit auf dem Tisch, aber die Gegenseite scheint momentan wenig an Gesprächen interessiert zu sein. Die Kriegspartei gewinnt in Europa die Oberhand. Die europäischen Werte sollen bis zum letzten Ukrainer verteidigt werden, so heißt es. Milliarden von Euro werden in der Luft verpulvert, ohne die Bevölkerung zu fragen. Nur ein Teil davon landet in der Ukraine. Wer kontrolliert das überhaupt? Wo bleiben die strengen europäischen Normen? Das betrifft auch die Waffen – die Spur solcher Lieferungen wird man in der ganzen Welt dann Jahre, wenn nicht Jahrzehnte spüren. Im Nahen Osten, Asien, Afrika. Gut, wenn sie nicht teilweise auch nach Europa zurückkehren.

Irgendwann wird die Vernunft aber siegen, und die Zeit für Verhandlungen kommen. Je länger aber die Kriegshandlungen dauern werden, desto schwieriger wird es sein, eine Einigung zu finden. 

Wie sieht die Russische Föderation aktuell die Rolle der Europäischen Union?

Die EU spielt in der Ukraine-Krise leider eine ausgesprochen destruktive Rolle. Unsere Beziehungen haben den Tiefpunkt erreicht und gehen bereits in den Minusbereich. Alles, was man in den Jahren der Zusammenarbeit erreichen konnte, wurde zerstört. Und ein „business as usual“ kann es nicht mehr geben.

In den letzten Jahren wurden wir Zeuge davon, wie die Europäische Union von einem der wichtigen Zentren der multipolaren Welt mit einer gewissen strategischen Autonomie zu einem Hilfsblock der Nato degradierte.

Was die antirussischen Sanktionen anbetrifft, so wendet die russische Seite ihre Gegenmaßnahmen noch nicht vollkommen an, die eigentliche Wirkung der westlichen Sanktionen auf die eigene Wirtschaft und die Bürger ist ohnehin bereits gravierend. Allerdings behalten wir uns das Recht vor, unsere Gegenmaßnahmen zu verhärten.

Was kann Österreichs Bundesregierung dazu beitragen, damit die Kampfhandlungen eingestellt werden?

Es ist nicht meine Funktion Ratschläge zu geben. Die Frage lautet anders: Was und wie möchte Österreich beitragen? Und ich habe momentan weder eine klare Vorstellung davon, noch irgendwelche besonderen Erwartungen.

Die Wiener Diplomatie kann auf reiche Traditionen zurückblicken, aber leider sind diese jetzt nicht gefragt. 

Was fehlt Ihnen in der Berichterstattung der westeuropäischen Medien über die Vorgeschichte für die jetzige russische Spezialoperation in der Ukraine?

In der Medienpolitik großer westlicher Medienverlage herrschen gegenüber Russland Voreingenommenheit und Einseitigkeit. Infolgedessen haben die meisten Menschen in Europa überhaupt keine Vorstellung davon, wie es zu diesem Konflikt gekommen ist. Es hat nicht am 24. Februar 2022 angefangen.

Entgegen den Garantien von Frankreich, Deutschland und Polen, die die Vereinbarung zwischen dem damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch und der Opposition gewährleisten sollten, kam es 2014 in Kiew zu einem bewaffneten Staatsstreich. Neonazis und Radikale gelangten in Kiew an die Macht. Die EU erklärte, dies alles sei „Teil des demokratischen Prozesses“ gewesen.

Zu einem weiteren Schritt der Eskalation kam es am 2. Mai 2014, als Neonazis 50 Menschen bei lebendigen Leib in Odessa verbrannt haben. Am 2. Juni 2014 bombardierten ukrainische Militärs und die Luftwaffe das Zentrum von Lugansk und andere Städte im Osten des Landes, nur weil ihre Bewohner sich weigerten, die Resultate des verfassungswidrigen Staatsstreiches zu akzeptieren und in einer russophoben Gesellschaft zu leben. Die 2015 unter Teilnahme Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine unterzeichneten Minsker Abkommen boten noch eine reale Chance, die territoriale Integrität der Ukraine zu wahren. Die darin enthaltenen einfachen Bedingungen wurden jedoch von der ukrainischen Führung nicht eingehalten. In den Jahren der Sabotage der Minsker Abkommen sind 14.000 Zivilisten ums Leben gekommen, infolge des direkten Beschusses von Städten, der zivilen Infrastruktur, einschließlich von Schulen, Krankenhäusern und Kindergärten. In den westlichen Medien liest man nichts davon. Wie auch über Kriegsverbrechen der ukrainischen Streitkräfte und Kombattanten in diesen Tagen. 

Wer könnte nun tatsächlich als Vermittler einen für beide Konfliktparteien annehmbaren Waffenstillstand aushandeln – der türkische Präsident? Oder wie der Vatikan meinte: der Papst?

Es braucht keine Vermittler, sondern einen souveränen Staat mit einer souveränen Staatsmacht, die souveräne Entscheidungen trifft. Diese gibt es bei weitem nicht mehr in Kiew. 

Sie sind bereits seit vielen Jahren Diplomat und im Außenministerium tätig – müsste nicht jetzt die große Stunde der Diplomatie sein?

Ich habe als Diplomat an der Gestaltung unserer Beziehungen in verschiedenen Bereichen mitgewirkt. Die Stunde der Diplomatie hat längst geschlagen, es wird aber leider nicht im vollen Umfang verstanden.

Ein gutes Beispiel ist die Corona-Pandemie. Noch vor zwei Jahren habe ich gesagt, dass es eine Chance für die Menschheit sei, die Differenzen beiseite zu legen und diese Herausforderung gemeinsam zu bewältigen. Aber ich fürchte bereits, dass wir in Zeitalter der verpassten Chancen leben.

Später im Dezember 2021 haben wir unsere Vorschläge zur europäischen Sicherheitsarchitektur vorgelegt. Wir wurden nicht erhört.

Die Stunde der Diplomatie wird aber unausweichlich kommen, wenn wir uns an den Verhandlungstisch setzen um eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur für Europa zu besprechen. 

Könnte die Russische Föderation als Zeichen des guten Willens einer Aufarbeitung der Vorgänge in Bucha sowie aller derartiger Taten beider Kriegsparteien durch eine UNO-Mission mit russischer Beteiligung zustimmen?

Russland wird keine internationale Untersuchung der Vorgänge in der Ukraine einleiten, da es sich unter den heutigen Umständen der Objektivität der Ermittlung nicht sicher ist. Leider zeigt die Erfahrung früherer Ermittlungen, auch durch den Internationalen Strafgerichtshof (Russland und die Ukraine sind keine Mitgliedstaaten), eine äußerst voreingenommene Position Russland gegenüber.

Was die Provokation in Bucha und andere ähnliche betrifft, so gibt es verlässliche Fakten, die auf eine Inszenierung ukrainischer und westlicher Geheimdienste hindeuten. Es ist Teil einer riesigen Desinformationkampagne. Der Westen geht aufs Ganze. Solche Inszenierungen werden gezielt gemacht, um das Urteil noch vor dem Prozess zu fällen. Jeden Tag wird von solchen Fakes von unserem Verteidigungsministerium berichtet, und weitere sind in der Vorbereitung.

Wir haben also große Zweifel, inwieweit eine wirklich unparteiische Untersuchung jetzt möglich ist – neutral und unvoreingenommen. Erinnern Sie sich an die Situation um das Haus der Gewerkschaften in Odessa, als Menschen lebendig verbrannt wurden, auf den Fensterbänken standen und um Gnade flehten. Dies wurde von der sogenannten „zivilisierten“ internationalen Gemeinschaft ohne weiteres hingenommen, niemand ist auf der Anklagebank gelandet.

Was Kriegsverbrechen in der Ukraine anbetrifft – so werden Tag täglich dutzende von der russischen Staatsanwaltschaft registriert. Die Untersuchungen laufen auf Hochtouren. Die Gerechtigkeit wird in vollem Umfang gewährleistet. 

Was wird mit den vielen Ausländern passieren, die auf Seite der ukrainischen Armee gegen die russischen Streitkräfte kämpfen und in Gefangenschaft kommen – auch zwei Österreicher sollen darunter sein?

Die Ukraine ist mit Hilfe der Nato-Staaten zu einem Zentrum der Ansammlung von Terroristen und Söldnern mit Kampferfahrung geworden. Die Kiewer Führung ist stets bemüht, so viele Kämpfer aus dem Ausland anzuwerben, wie nur möglich. Auch die ukrainische Botschaft in Wien war an der Rekrutierung von österreichischen Söldnern zur Teilnahme an Kampfhandlungen beteiligt. Ein klarer Verstoß gegen internationales Recht und das Gesetz. Erst nach einer Intervention der russischen Botschaft wurde diese Tätigkeit der Ukrainer durch das österreichische Außenministerium umgehend unterbunden. Und es wird mich überhaupt nicht wundern, wenn unter den gefangenen und gefallenen Söldnern und Kombatanten weitere Personen mit österreichischen Pässen auftauchen werden.

Besonders zynisch erscheinen Versuche der ukrainischen Führung, ausländische Söldner der westlichen Öffentlichkeit als “ausländische Freiwillige” zu präsentieren. Immerhin gibt es in der Ukraine seit 2014 eine Konzentration von Söldnern aus 27 Staaten. Viele von ihnen unterhielten Verbindungen zu dem rechtsradikalen Regiment Asow und anderen. Gemäß Genfer Konvention haben ausländische Söldner keinen Anspruch auf den Status eines Kombattanten oder Kriegsgefangenen.

Aber nicht nur ausländische Söldner werden von der Ukraine angeworben. Nach unseren Angaben hat das Kiewer Regime ihre diplomatischen Vertretungen angewiesen, im Ausland lebende ukrainische Bürger für den Krieg zu rekrutieren, zuallererst solche, die im konsularischen Register vermerkt sind. Gegen Personen, die sich der Mobilisierung entziehen, sollen entsprechende Normen des ukrainischen Gesetzes geltend gemacht werden – von Geldstrafen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung. Auch werden ihnen konsularische Dienstleistungen verweigert, um sie zur Rückkehr ins Heimatland zu zwingen.

Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sind seit Beginn der speziellen Militäroperation 6956 ausländische Söldner in der Ukraine eingetroffen, von denen 1956 umgekommen und weitere 1779 nach Hause zurückgekehrt sind. Insgesamt kämpften in der Ukraine fünf Söldner mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Zwei von ihnen sind ums Leben gekommen, einer hat das Land bereits verlassen. 

Eine unserer größten Sorgen in Österreich ist aktuell, ob «Gazprom» weiterhin die geltenden Verträge zur Gas-Versorgung einhalten wird. Wie bewerten Sie die Situation?

Alle sprechen jetzt über die österreichische Energieabhängigkeit von Russland. Aber man vergisst dabei zu erwähnen, dass es all diese 50 Jahre eine gegenseitige Abhängigkeit war. Auch wir waren daran interessiert, einen verlässlichen Abnehmer für unser Gas zu finden. Auf dieser gegenseitig vorteilhaften Partnerschaft mit Russland beruht auch nicht zuletzt der österreichische Wohlstand. Wir sind von unseren Verpflichtungen niemals abgetreten. Und wenn Österreich eine Kehrtwende macht, und die Energiezusammenarbeit mit Russland ablehnt, dann darf man von uns nicht erwarten, dass wir danach immer noch mit der ausgestreckten Hand dastehen. Es gilt immer das Gegenseitigkeitsprinzip. Sondergeschenke wird es von uns keine geben. 

Von der ukrainischen Regierung wird uns Journalisten immer gesagt, wenn die Russische Föderation die gesamte Ukraine erobert hat, käme das nächste Land weiter im Westen an die Reihe – hat Russland derartige Pläne? Und was ist jetzt, aktuell das tatsächliche politische Ziel Russlands?

Ich habe kein besonderes Interesse Selenskij zu kommentieren – er bekommt ohnehin schon zu viel Aufmerksamkeit in Österreich und ist auf allen Bildschirmen omnipräsent. Die gesamte Kiewer Hollywood-Maschinerie arbeitet stets auf Hochtouren und produziert Fakes, um in der Welt Angst vor Russland zu sähen. 

Was halten Sie von Österreichs Umgang mit seiner Neutralität – sind wir mit unserer Teilnahme an den EU-Sanktionen und unseren Zahlungen an die EU, die damit Rüstungsgüter für die Ukraine bezahlt, noch neutral?

Dank dem immerwährend neutralen Status, der im Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs verankert ist, genoss Wien lange Zeit zu Recht hohe Anerkennung, auch als Ort des Dialogs und „Insel der Vernunft“ in Europa. Es geht wirklich um eine Trade Mark der Zweiten Republik.

Aus Umfragen wissen wir, dass immer noch mehr als 80 Prozent der österreichischen Bevölkerung diesen Grundsatz unterstützen. Es gibt aber auch andere Meinungen. Wir verfolgen sehr genau, was in der österreichischen Politik dazu gesagt wird. Vor kurzem hat zum Beispiel Bundeskanzler Nehammer erklärt, dass die österreichische Neutralität nicht zur Debatte stünde. Was für uns aber wirklich zählt ist Österreichs Realpolitik, also nicht das, was von hohen Tribünen proklamiert wird, sondern die unmittelbaren Handlungen.

Wien verliert maßgeblich die Anziehungskraft als internationales Zentrum des Dialogs. Und nicht nur in unseren Augen.

Der Botschafter der Russischen Föderation im Interview mit dem eXXpress.