Als die Pandemie vor eineinhalb Jahren über uns hereinbrach, da standen wir angesichts der unsichtbaren Gefahr zusammen. Alle (wirklich alle?) sahen die Notwendigkeit der Isolation ein – man schützte sich selbst und die Alten und Vulnerablen, blieb zu Hause und stand hinter der Regierung – ein einig Volk von Vorsichtigen.

Mit anhaltender Virusgefahr und steigender Maßnahmen-Müdigkeit kam der Widerstand an die Oberfläche. Wilde Verschwörungstheorien heizten die Stimmung an, besonders, als der völlig neuartige Impfstoff endlich da war. Die Demos (gegen den Fortschritt) schwollen an und der blaue Kickl ritt auf der Welle als Anti-Corona-Führer. Manche haben sich gewundert, manche geärgert, doch man hat es hingenommen.

Aber jetzt, bei einer Impfrate von fast 65 Prozent, wird plötzlich die große „Spaltung“ diagnostiziert. Halten wir es nicht aus, dass es Menschen gibt, die Angst vor der Impfung haben? Ob aus rationalen oder irrationalen Gründen ist egal: Wer Angst hat, hat Angst. Und wenn ein ehemaliger deutscher Bundespräsident diese Menschen als „Bekloppte“ bezeichnet, was in heimischen Medien gerne übernommen und mit „Deppen“ eingeösterreichert wird, dann sind’s diese Hochmütigen, die „spalten“.

Wer sich impfen lässt (lassen kann), ist geschützt. Fast eine Million Unter-12jährige können noch nicht geimpft werden. Dann gibt es Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen ablehnen müssen. Und der Rest, vielleicht 15 Prozent, hat eine andere Meinung, lehnt den Stich ab. Ja, es ist nur eine andere Meinung, denn festes Wissen gibt es bei diesem neuen Virus nicht. Man kann den Wissenschaftlern trauen oder nicht. Die Entscheidung, sich durch Impfung zu schützen oder ungeimpft die Krankheit zu riskieren, fällt jeder für sich. Wir werden sie aushalten, diejenigen, die sich nicht überzeugen lassen – und die niemand das Recht hat, Deppen zu nennen.

2015 kam die Moral ins Spiel

Es hat schon bei so vielen Themen mindestens zwei Meinungen gegeben, die diametral entgegengesetzt waren. Wir haben für und gegen „das Atom“ gekämpft – knapp dagegen gestimmt und sind langsam zu einer eingeschworenen „atomfreien“ Nation geworden. Wir waren für und gegen den EU-Beitritt, wir haben abgestimmt und sind mit manchen Auf und Ab‘s doch ein Volk von Europäern. Wir haben für und gegen ein Berufsheer plädiert, die Frage per Abstimmung geklärt. Waren das Spaltungen? Vielleicht, am Höhepunkt der Diskussionen. Aber eigentlich wurde das immer als etwas Natürliches, absolut nicht Explosives wahrgenommen: Zwei entgegengesetzte Meinungen, das hält ein Land leicht aus. Nur eines war bisher immer: Man hat dem Andersdenkenden nicht die Intelligenz abgesprochen. Was eigentlich die Grundlage für jede ernst gemeinte Diskussion ist.

2015 kam dann die Moral ins Spiel. Da waren die „Welcome“-Bewegten, die die Skeptiker, denen die Flüchtlingswelle zu groß schien, als „unmoralisch“, „unchristlich“, unmenschlich“ diffamierten. Auch jetzt, angesichts der Afghanistan-Krise, reden die einen wieder vom Gebot der Menschlichkeit (ausgerechnet bekennende Atheisten strapazieren besonders gern das Diktat der christlichen Nächstenliebe) und sprechen damit denjenigen, die vor dem Überstrapazieren der sozialen Fundamente warnen, jede Moral ab. Nur: Wer sich im Alleinbesitz der Moral glaubt, lässt keine andere Meinung gelten. Und diese Spaltung lässt sich dann nicht mehr überbrücken. Da steht dann nicht mehr Argument gegen Argument – da gibt es nur die eine, allein-seligmachende Wahrheit.

Nur Diktaturen verordnen ihrem Volk eine einzige Meinung

Unterschiedliche Meinungen sind der Alltag einer Demokratie. Welche vorherrscht, dafür gibt es Wahlen – da kandidieren Parteien, was an sich schon die Normalität einer „Spaltung“ signalisiert: Parteien sind eben nur Teile („pars“) der Gesellschaft. Und auch wenn in unserem Parlament viereinhalb sozialistische Parteien sitzen, sind sie Abspaltungen, Teile und haben bei manchen Themen zum Glück immer noch unterschiedliche Auffassungen. Wenn man so will, dann ist Demokratie nichts anderes, als mit der natürlichen Spaltung der Gesellschaft friedlich umgehen zu können. Nur Diktaturen verordnen ihrem Volk eine einzige Meinung.

Darum sollte uns die „Spaltung“ durch die Impfgegner, die sich ja selbst am meisten gefährden, weniger beschäftigen als die Tatsache, dass immer mehr Österreicher sagen, dass sie nicht mehr wagen, ihre Meinung öffentlich zu äußern. Darin liegt eine größere Gefahr für unsere Freiheit als in jeder 1-G-Regel.

Unbeeindruckt von dystopischen Meinungstrends und spitzzüngig gegen Nonsense-Gerede artikuliert sich auch Ruth Pauli (70). „Erst denken, dann twittern“, warnte die Autorin und langjährige ehemalige Innenpolitik-Redakteurin einmal. Schon früh blickte die gebürtige Wienerin über den österreichischen Tellerrand, ihre Studien- und Forschungsjahre führten sie in die USA, die Sowjetunion und nach Frankreich. Nach der Promotion über russische Literatur arbeitete sie unter anderem bei der „Wochenpresse“, der „Presse“ und dem „Kurier“. Sie brachte mehrere Bücher heraus, ob als Übersetzerin, Autorin oder als Herausgeberin.