Dass der Antisemitismus in Europa dramatisch gestiegen ist, geben sämtliche Juden in ganz Europa an. Die übrigen Europäer teilen ihre Einschätzung, und teils belegen sie diese auch durch ihre eigenen antisemitischen Vorurteile. Das ist eines der zentralen Ergebnisse, zu dem die Politikwissenschaftlerin Nina Scholz bei ihrer Analyse der wichtigsten Antisemitismusstudien gelangt.

Im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) hat sie neun Studien und einen Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über antisemitische Vorfälle untersucht, die von 2017 bis 2020 in Deutschland, Österreich und der EU durchgeführt worden sind. Eine eigene Sektion widmet sie dem Antisemitismus in muslimischen Communitys, zum einen weil vom ÖIF gewünscht, zum anderen weil typische antisemitische Feindbilder dort deutlich stärker ausgeprägt sind.

Das Vorurteil, wonach Juden zu mächtig seien, ist besonders weit verbreitet

Die meisten Studien bestätigen die Ergebnisse der anderen. 89 Prozent der Juden in Europa haben schon Antisemitismus im Internet erlebt, gefolgt von Feindseligkeiten auf der Straße
oder auf Plätzen (73 Prozent), in den Medien (71 Prozent) und in der Politik (70 Prozent). 35 Prozent aller Juden in Europa haben den Vorwurf gehört, den Holocaust für ihre eigenen Interessen zu missbrauchen, 36 Prozent aller Österreicher denken auch tatsächlich, dass das die Juden tun.

Die Behauptung “Juden haben zu viel Macht” haben 43 Prozent aller befragten Juden in Europa schon gehört. In Österreich stimmten 39 Prozent der Aussage zu: “Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt”, wie eine von der Parlamentsdirektion des österreichischen Parlaments in Auftrag gegebene Studie ergab, die sich auf 2128 Interviews stützt. Bei türkisch- und arabisch-sprechenden Interviewpartnern waren es 63 bzw. 64 Prozent.

Große Unterschiede gibt es in Österreich je nach ethnischer Zugehörigkeit

Die zu große Macht der Juden ist Wesensbestandteil aller antisemitischen Verschwörungstheorien. Sie ist je nach Personengruppe unterschiedlich stark verbreitet. Bei einer Jugendstudie stimmten “nur” 15 Prozent aller Jugendlichen ohne Migrationshintergrund der Aussage zu, bei migrantischen Jugendlichen waren es deutlich mehr. Eine österreichische Studie unter muslimischen Gruppen ergab: 62 Prozent aller Syrer, 61 Prozent aller Austro-Türken (bei der zweiten Generation noch 46 Prozent), 55 Prozent von Personen aus dem Irak und aus Afghanistan finden, dass Juden zu viel Macht haben. Deutlich geringer war die Zustimmung bei Muslimen mit bosnischem (26 Prozent) und iranischem Migrationshintergrund (18 Prozent).

“Diese signifikant höhere Zustimmung zu antisemitischen Aussagen durch Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus einem mehrheitlich muslimischen Land eingewandert sind, zieht sich durch alle Studien”, hält Scholz fest. Eine weltweit durchgeführte Umfrage der Anti-Defamation League ergab ähnliche Ergebnisse für Österreich und eine signifikant höhere Zustimmung zur angeblich zu großen Macht der Juden in muslimischen Ländern – etwa 69 Prozent in der Türkei, 56 Prozent im Iran.

Juden wie Nicht-Juden sehen massiven Anstieg des Antisemitismus in Europa

89 Prozent der Juden in der EU sahen einen Anstieg des Antisemitismus zwischen 2013 und 2018. 63 Prozent davon einen starken, 26 Prozent einen schwachen. In Österreich ist der Wert ebenfalls hoch, allerdings deutlich niedriger: 33 Prozent der österreichischen Juden sehen eine starke, 42 Prozent eine schwache Zunahme. Zu diesem Ergebnis kam 2018 eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (kurz: FRA-Studie) unter 16.395 Juden in zwölf EU-Umfrageländer. Die Juden in Frankreich, Belgien, Deutschland und der Niederlande sehen im Antisemitismus das größte Problem.

Der Querschnitt der europäischen Bevölkerung teilt diese Einschätzung, wenn auch in geringerem Ausmaß. 50 Prozent – also jeder zweite Europäer – hält Antisemitismus ebenfalls für ein Problem, 15 Prozent davon für ein großes. 36 Prozent haben ebenfalls eine Zunahme des Antisemitismus registriert. Gleichzeitig geben aber 77 Prozent an, keine jüdischen Freunde oder Bekannte zu haben, weshalb sie von dieser Problematik weniger unmittelbar betroffen sind. Diese Resultate brachte im Jahr 2018 die von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Eurobarometer-Studie zutage, die sich unmittelbar auf die Ergebnisse der zuvor vorgestellten FRA-Studie bezieht. Für sie wurden 27.643 Menschen in 28 EU-Mitgliedstaaten befragt.

Anti-Israel-Demos, die antisemitische Stereotype bedienen, wurden auch auf Wiens Straßen erlebtAPA/AFP

Sämtliche Studienergebnisse belegen eine besonders starke Zunahme von Antisemitismus im Internet. Eine Untersuchung der Kommentarbereiche deutscher Online-Qualitätsmedien ergab: 2007 waren noch 7,51 Prozent antisemitisch. Bis zum Jahr 2017 stieg der Anteil auf 30,18 Prozent. Gerade bei der Wortwahl zeige sich eine zunehmende Radikalisierung. Israelbezogener Antisemitismus ist dabei die zweithäufigste Variante. Von legitimer Israel-Kritik lässt er sich klar durch Dämoniserung, Delegitimierung und doppelte Standards unterscheiden. Gerne münzt er Begriffe des Antisemitismus  auf Israel um (“Pest”, “Krebsgeschwür” etc.).

“Alle Studien der letzten Jahre zeigen, dass antisemitische Einstellungen weit über extremistische politische Ränder hinaus in der Gesellschaft verbreitet sind”, unterstreicht Scholz. Die Dauerkrise, in der sich Europa seit der Finanzkrise 2008 befindet, könnte dabei eine Rolle spielen. Schließlich würde Judenfeindschaft in Europa schon seit eineinhalb Jahrtausenden besonders in Krisensituationen und Umbruchszeiten ihre Wirkung entfalten, wie der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer schon 1967 feststellte.

Ebenso hält Scholz fest: Wo immer Muslime bzw. Menschen aus islamischen Ländern bzw. deren Kinder befragt werden, zeichnen sich ihre Antwarten “durch signifikant höhere Werte aus”.