Besonders heftige Gefechte toben zurzeit um Sjewjerodonezk, das seit der Machtübernahme durch prorussische Separatisten 2014 in Luhansk als neue Gebietshauptstadt dient. Sie steht allem Anschein nach kurz vor dem Fall. Russische Truppen haben die Stadt fast komplett umstellt. Sie wollen nach dem Fall der 280 Kilometer südlich gelegenen Hafenstadt Mariupol dem russischen Präsidenten Wladimir Putin den nächsten Kriegserfolg bescheren.

Fällt Sjewjerodonezk, ist die Weg frei zum nächsten Kriegsziel, der vollen Einnahme der Region Donezk. Dort drohen schwerste Kämpfe um die symbolträchtigen Bastionen Slowjansk und Kramatorsk.

Schwere Waffen und Strategiewechsel als Ursachen

Die jüngsten militärischen Erfolge der Russen im Donbass lassen sich nach Einschätzung des Militärexperten und Politologen Carlo Masala auf zwei Ursachen zurückführen: Erstens fehle es den Ukrainern an schweren Waffen. Zweitens hätten die Russen ihre Strategie erfolgreich geändert. “Im Gegensatz zum bisherigen Kriegsverlauf gehen sie nicht mehr an breiten Abschnitten der Front vor, sondern ziehen ihre Truppen zusammen, um an kleinen Stücken der Front voranzukommen. Dadurch haben sie derzeit eine personelle Überlegenheit”, sagte der Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München.

Ukraine hat Gegenoffensive für Juni angekündigt

Für die Ukraine stelle sich nun die Frage, ob sie bestimmte Gebiete aufgebe, weil ansonsten die Gefahr bestehe, dass dort Truppen eingekesselt würden und dann womöglich in Kriegsgefangenschaft gerieten. Ganz entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf sei allerdings, welchen Erfolg die von der Ukraine für Juni angekündigte Gegenoffensive haben werde, sagte Masala.

Die Verhandlungen stocken

Die Verhandlungen liegen unterdessen weiterhin auf Eis: Selenskyj will den Konflikt auf dem Schlachtfeld gewinnen. Er lehnt russische Forderungen nach einem Verzicht auf die ostukrainischen Gebiete und die von Russland 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim kategorisch ab. Doch auch Putin habe keinen Grund, sich auf Gespräch einzulassen, meint der Militärexperte Masala: “Es läuft für ihn.” Putin werde erst dann ernsthaft zu verhandeln beginnen, wenn er befürchten müsse, durch eine Fortführung des Krieges mehr zu verlieren als zu gewinnen.

Als sicher gilt auch, dass Putin nicht abrücken wird von seinen immer wieder genannten Hauptzielen, die Gebiete Luhansk und Donezk komplett der ukrainischen Kontrolle zu entreißen. Besetzt haben russische Truppen zudem bereits die südukrainische Region Cherson, die sich durch Grenzen und eine Pufferzone zum Rest der Ukraine abgeschottet hat.

Wie viel möchte sich Putin von der Ukraine holen?

Wie weit Putin und seine Truppen gehen, darüber wird auch in Russland spekuliert. In Moskau und Kiew ist immer wieder zu hören, es gehe Russland auch um die Hafenstadt Odessa und darum, die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer abzutrennen.

Der Militärexperte Masala meinte zu Putins Zielen: “Ob es ihm reicht, der Ukraine den Donbass und die Landbrücke zur Krim zu entreißen – was immerhin 15 bis 20 Prozent des Territoriums der Bundesrepublik Deutschland entsprechen würde – oder ob er mehr will, das wissen wir nicht. Er hat mehr angekündigt.” Es gebe auch Spekulationen, wonach Putin auch wieder Angriffe auf die Hauptstadt Kiew ausführen wolle.