Eine offizielle Website des ukrainischen Staates stellt bekannte Intellektuelle des Westens an den Pranger. Man möge sich einmal kurz vorstellen, ein anderes Land würde solches wagen: Was wäre die Reaktion? Die Website unterstellt den aufgelisteten Personen, mit dem Kreml gemeinsame Sache zu machen

Alles begann am 19. März 2021: Präsident Wolodymyr Selenskyj hat damals per Erlass das “Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation” eingerichtet, ein Arbeitsorgan des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates. Dass die Ukraine über eine solche Institution verfügt, klingt zunächst plausibel, immerhin war das Land schon damals im Krieg mit Russland – und jeder Krieg ist auch ein Propaganda- und Desinformationskrieg. Wer aber auf der offiziellen Website dieser staatlichen Einrichtung nach neuen Erkenntnissen über Fake News des Kremls sucht, wird enttäuscht.

Die staatliche Homepage mit der Feindesliste

Es geht um Erzählungen, die mit der russischen Propaganda übereinstimmen

Ein einziger Bericht ist seit der Invasion in die Ukraine am 24. Februar erschienen, und der hat es in sich: Er attackiert nicht etwa russische Falschmeldungen und Propagandisten, nein, er nimmt 75 bekannte Persönlichkeiten westlicher – und damit verbündeter Staaten – ins Visier. Diese von Kiew aufgelisteten – und diffamierten – Personen würden “Erzählungen fördern, die mit der russischen Propaganda übereinstimmen”, heißt es auf der Website. Eine von ihnen: die deutsche Feministin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift “Emma” Alice Schwarzer.

Wünscht keine Beteiligung Deutschlands am Krieg: Alice SchwarzerAPA/dpa/Oliver Berg

Alice Schwarzer fordert seit April einen Kompromiss samt Kriegsende

Das “Zentrum zu Bekämpfung von Desinformation” wirft Schwarzer vor, die russischen Narrative “Deutschland sollte auf die Waffenlieferung in die Ukraine verzichten” und “Selenskyj provoziert Putin” verbreitet zu haben. Das Bemerkenswerte: Die Publizistin ist – ebenso wie sämtliche andere Personen auf Kiews Feindesliste – überhaupt keine Kreml-Sympathisanten, geschweige denn -Kollaborateurin. Schwarzer und viele andere befürworten keinen jahrelangen Abnützungskrieg, sind skeptisch bezüglich der Siegesaussichten der Ukraine und wünschen keine Beteiligung ihres Landes an dem Krieg.

Alice Schwarzers Name befindet sich unter den aufgelisteten Personen

Ende April dürfte Alice Schwarzer als Initiatorin und Erstunterzeichnerin eines “Offenen Briefs an Kanzler Olaf Scholz” die Aufmerksamkeit der Ukraine auf sich gezogen haben. Deutschland solle keine Kriegspartei werden, heißt es in der Petition, auf Waffenlieferungen solle Deutschland verzichten, vielmehr sei ein Waffenstillstand samt schmerzhaftem Kompromiss mit Gebietsabtretungen anzustreben. Vom damaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland wurde Schwarzer dafür auf Twitter wüst beschimpft: “Keiner mit gesundem Verstand soll Ihre schäbige EMMA kaufen”.

"Der Umgang dieser Leute mit Kritikern entlarvt sich selbst"

Schwarzer meint dazu gegenüber der Berliner Zeitung: “Kein Kommentar. Der Umgang dieser Leute mit ihren Kritikern entlarvt sich selbst.” Ebenfalls Aufnahme in die Schwarze Liste fand der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich – also ein ranghohes Mitglied der größten deutschen Regierungspartei, die kürzlich beschlossen hat, moderne Waffen an die Ukraine zu liefern. Mützenichs “Vergehen”: die Forderung “Die Ukraine braucht einen Waffenstillstand”. Damit unterstütze der deutsche Politiker russische Propaganda.

Österreicher sind auf der Liste nicht zu finden, wohl aber deutsche Schriftsteller, Nato-Kritiker, Politikwissenschaftler und Universitätsprofessoren. Auch westliche Politikern sind darunter, etwa der bekannte republikanische US-Senator Rand Paul, die demokratische US-Abgeordnete Tulsi Gabbard aus Hawaii, sowie die beiden die französischen Rechtsaußen-Politiker Marine Le Pen und Eric Zemmour.

Kiew attackiert sogar Wissenschaftler wegen ihrer Analysen

Auch in dem israelischen Wissenschaftler und Autor Martin van Creveld – einem der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Militärhistoriker – sieht Kiew einen Verbreiter russischer Propaganda. (Die Liste ordnet ihn dabei seinem Herkunftsland, den Niederlanden, zu.) Creveld hat in den vergangenen Monaten mehrere Analysen zum Ukraine-Krieg verfasst, auch exklusiv für den eXXpress. Zunächst hat er die Invasion im Februar korrekt vorausgesagt, dann vor einem Vietnam für Putin nach erfolgreicher Eroberung gewarnt. Doch seit vielen Wochen hält er einen Sieg Russlands für das wahrscheinlichste Szenario, da die Ukraine mittlerweile – dank westlicher Unterstützung – in einen konventionellen Krieg ist, in dem sie unterlegen ist.

Martin van Creveld verfolgt den Krieg in der Ukraine genau und distanziert.Getty

Die Personen auf der Liste leben in Ländern, die der EU und/oder NATO angehören, also Bündnissen, denen die Ukraine lieber heute als morgen beitreten möchte. In diesen Ländern herrscht freilich etwas, das die jetzige ukrainische Regierung nicht zulässt: Meinungsfreiheit und Opposition. Die Ukraine sollte bedenken: Beides ist Voraussetzung, um in EU oder NATO aufgenommen zu werden. Es bleibt schleierhaft, warum dieses Land ausgerechnet Persönlichkeiten verbündeter Staaten so scharf attackiert. Vielleicht weiß auch die ukrainische Regierung (noch) nicht, was sie damit letztlich bezweckt. Dann kann man ihr nur wünschen, dass sie ihre militärischen Aktionen besser zu Ende denkt.