Höchst unzufrieden mit der militärischen Unterstützung zeigte sich Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit Japans größter Zeitung „Yomiuri Shimbun“: „Wir können sie [die Gegenoffensive] noch nicht starten. Ohne Panzer, Artillerie und HIMARS-Langstreckenraketen können wir unsere tapferen Soldaten nicht an die Front schicken“, sagte der ukrainische Staatschef. Angesichts des gravierenden Mangels an Munition müsse Kiew zurzeit auf weitere Lieferungen von seinen Partnern warten. „Wenn Sie den politischen Willen haben, können Sie einen Weg finden, uns zu helfen. Wir befinden uns im Krieg und können nicht warten.“ Die Lage in der Ostukraine sei „nicht gut“.

Viele NATO-Staaten haben sichtlich Schwierigkeiten, ausreichend viele Waffen zu produzieren und an die Ukraine zu liefern. Im Bild: NATO-General Jens Stoltenberg.APA/AFP/Kenzo TRIBOUILLARD

Ankündigung der Offensive soll möglicherweise Russland verunsichern

Seit einigen Wochen gibt es Gerüchte über eine Frühjahrsoffensive der Ukraine gegen die russischen Streitkräfte. Ukrainische Kommandeure haben angedeutet, dass eine solche Offensive unmittelbar bevorsteht. Das könnte allerdings eine Strategie sein, um Russland zu verunsichern, vermuten einige Militär-Analysten. Die ukrainischen Befehlshabe wollten, dass die russischen Kommandeure ihre Streitkräfte entlang der Frontlinien dünn verteilen, um auf jeden Angriff vorbereitet zu sein, anstatt sie an bestimmten Orten zu konzentrieren, wie etwa in der östlichen Stadt Bakhmut. Andere Analysten halten eine baldige Gegenoffensive für sehr wohl möglich.

Die Lage an der Ostfront ist nicht gut, sagt Selenskyj. Doch genau hier soll die Gegenoffensice starten.

Selenskyj hat auf jeden Fall das erste Mal eingeräumt, dass sich die Gegenoffensive wegen des Mangels an westlicher Ausrüstung verzögern könnte. Wie dramatisch die Situation der ukrainischen Streitkräfte ist, hat jüngst ein ukrainischer Kommandeur – bekannt als Krupol – gegenüber der „Washington Post“ enthüllt. Der Artikel in der US-Zeitung sorgte für Aufsehen. Die Qualität der ukrainischen Streitkräfte soll sich demnach nach einem Jahr voller Verluste deutlich verschlechtert haben, weil viele der erfahrensten Kämpfer auf dem Schlachtfeld bereits gefallen sind. Gleichzeitig habe der Zustrom unerfahrener Wehrpflichtiger, die zur Deckung der Verluste herangezogen wurden, das Profil der ukrainischen Streitkräfte verschlechtert.

Viele der erfahrensten Kämpfer sollen bereits gefallen sein.
Andere Soldaten wurden schwer verletzt.

Erfahrene Soldaten bereits tot, neuen Rekruten fehlt Kampferfahrung

Krupols Bataillon, das zur 46. Luftsturmbrigade gehört, hat Bachmut verteidigt und wurde dabei praktisch aufgerieben, berichtete der Kommandeur. Zu Beginn des Krieges hatte es noch aus 500 Mann bestanden. Mittlerweile wurden alle verletzt oder getötet. Danach sei sein Bataillon immer wieder aufgefüllt worden, berichtete Krupol der US-Zeitung. Allerdings seien die neu eingezogenen Soldaten sehr schlecht ausgebildet, und könnten weder ein Gewehr abfeuern noch eine Handgranate werfen.

Der Kommandant, der offensichtlich seine eigene Militärführung aufrütteln wollte, fand deutliche Worte: „Das Wertvollste im Krieg ist Kampferfahrung. Ein Soldat, der sechs Monate Kampf überlebt hat, und ein Soldat, der von einem Schießstand kommt, sind zwei verschiedene Soldaten. Es ist Himmel und Erde.“ Nach den schweren Verlusten in Folge der Ukraine-Invasion „gibt es nur wenige Soldaten mit Kampferfahrung. Leider sind sie alle schon tot oder verwundet.“ Die neuen Rekruten seien auf die Kämpfe nicht vorbereitet: „Sie lassen einfach alles fallen und rennen weg. Das war’s. Verstehen Sie, warum? Ein Soldat schießt nicht. Ich frage ihn, warum, und er sagt: ‚Ich habe Angst vor dem Geräusch des Schusses.‘ Und aus irgendeinem Grund hat er noch nie eine Granate geworfen.“ Die Ausbilder hätten „bei ihrer Aufgabe versagt”.

Doch auch Einberufungen werden immer schwieriger. Freiwillige fehlen mittlerweile – der eXXpress berichtete.

Keine Munition an der Front

Auch Krupol kam auf den Munitionsmangel an der Front zu sprechen und fand dafür drastische Worte. Selbst Gewehrmunition und Mörsergranaten würden fehlen. „Wir stehen an der Frontlinie. Sie kommen auf uns zu, und wir haben nichts, womit wir schießen können.“ Der Kommandant wurde nach dem Interview umgehend degradiert, berichtet der „Stern“. In der Zwischenzeit soll er das Militär sogar verlassen haben. Ein Sprecher des ukrainischen Militärs sagte, Krupol habe „falsche Informationen verbreitet“. Die Verluste in der Einheit seien „deutlich übertrieben“.

Doch zumindest über den Mangel an Munition schweigt auch Selenskyj nicht länger. Die Verbündeten der Ukraine hatten mehr Waffen versprochen, allerdings benötigt die Zulieferung und ebenso die mittlerweile dringend benötigte Nach-Produktion mehr Zeit, als erhofft.

Der extrem hohe Verbrauch an Munition ist eine enorme Herausforderung – für die Ukraine und ebenso für ihre UnterstützerMaximilian Clarke/SOPA Images/LightRocket via Getty Images

Selenskyj: Keine Bedingungen für Friedensgespräche geschaffen

In Bezug auf die Möglichkeit der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen zwischen der Ukraine und Russland meinte Selenskyj gegenüber der japanischen Zeitung, dass „absolut keine Bedingungen dafür geschaffen worden sind“. Darüber hinaus äußerte er sich skeptisch über den von China vorgeschlagenen Friedensplan. „Wir haben keine Angebote zur Vermittlung oder Organisation von Verhandlungen aus China erhalten“, sagte der ukrainische Präsident und fügte hinzu, dass er Peking auf diplomatische Wege über seine Bereitschaft zu einem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping informiert habe.