Jahrelang hat die Europäische Zentralbank (EZB) einen wesentlichen Kritikpunkt an ihrer Nullzinspolitik ignoriert. Davon ist sie nun abgerückt, mit einer neuen Deutlichkeit, die überrascht. Möglicherweise hält es mittlerweile auch die EZB selbst für sinnlos, zu leugnen,  dass sich mit ihrer Politik soziale Schere vergrößert. Das räumte auf jeden Fall Ratsmitglied Isabel Schnabel in einer Rede offen auf der “Conference on Diversity and Inclusion in Economics, Finance, and Central Banking“ offen ein. Bemerkenswert: Auf der Homepage der EZB ist die Rede nicht auf Deutsch übersetzt worden.

"Gefahr, dass Geldpolitik unverhältnismäßig stark den oberen Rängen zugute kommt"

Wörtlich sagte Schnabel: “Ein erheblicher Teil der Bevölkerung des Euroraums besitzt keine Anleihen, Aktien oder Immobilien, und in dem Maße, in dem einige geldpolitische Instrumente, wie etwa der Ankauf von Vermögenswerten, die Preise dieser Vermögenswerte in die Höhe treiben, besteht die Gefahr, dass die Geldpolitik unverhältnismäßig stark denjenigen zugute kommt, die in den oberen Rängen der Vermögensverteilung stehen.”

EZB-Ratsmitglied Isabel Schnabel gibt die Verteilungseffekte der EZB-Politik auf einmal zu.APA/AFP/Daniel ROLAND

Ein überraschendes Eingeständnis. Offenbar sind die negativen Folgen der Geldpolitik im Alltag der Menschen zu überdeutlich, als dass man sie noch länger leugnen könnte. Mit einem Leitzins von null und einer permanenten Geldmengenausweitung hat die EZB einerseits den vielen Sparbuchbesitzern de facto ihre bisherige Form des Vermögensaufbaus genommen, andererseits Besitzer von Immobilien und Aktien übermäßig begünstigt, denn hier sind die Preise speziell in den vergangenen sechs Jahren atemberaubend steil in die Höhe gegangen. Beide Preiskategorien werden übrigens nicht vom Warenkorb erfasst und fließen somit auch in die offizielle Inflationsmessung nicht ein. Doch die Folgen sind nicht weniger konkret: Wer bereits Vermögen hat – in Form von Immobilien und Aktien – der ist jetzt noch reicher. Wer hingegen sein Vermögen erst aufbauen muss, der hat das bedeutend schwerer.

Die Wirtschaft steckt in der Krise, doch an der Wall Street läuft die Rallye

Wie stark diese Geldpolitik gerade die Aktionäre entlastet, konnte man in der Corona-Krise ein weiteres Mal beobachten, als die Aktienpreise besonders kräftig nach oben geklettert sind, obwohl die Wirtschaft – von manchen Krisengewinnern abgesehen – in vielen Bereichen beinahe zum Stillstand gekommen ist. Entsprechen kräftig ist in dieser Zeit auch das Bruttosozialprodukt gesunken, nur die Wall Street durfte sich über einen neuen Bullenmarkt freuen. Es mutet für Außenstehende paradox an: Die Wirtschaftskrise fand in den Aktienkursen kaum Niederschlag. Für zahlreiche Aktienbesitzer waren im Gegenteil sogar lukrative Zeiten mit kräftigen Zugewinnen. Man braucht schon sehr viel Phantasie, um anzunehmen, dass diese Preisanstiege nicht inflationär, sondern Folge des freien Markts sind. In den Medien konnte sich alle davon ein Bild machen, ob Bitcoin-Rallye, Rekordhochs für Tesla und so weiter. Es wird immer deutlicher: Die soziale Schere öffnet sich.

Doch hat diese Entwicklung eben nicht erst mit den coronabedingten Notmaßnahmen wie dem Anleihenkaufprogramms PEPP begonnen. Vielmehr hat die Coronakrise beschleunigt, was schon zuvor, ab der Finanzkrise von 2007 bis 2009 und der daraus resultierenden Eurokrise ab 2010 begonnen wurde. Die geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen seither haben Sachwerte begünstigt.

Die Ehrlichkeit kommt spät, die Umverteilung ist bereits unumkehrbar

Wer sich vor zehn Jahren US-Technologieaktien oder einen Fonds gekauft hat, Immobilien erworben oder Kryptowährungen zugelegt hat, darf sich freuen: Kein Sparbuch hätte ihm jede so fette Zugewinne beschert. Neben Sparbuchbesitzern schauen auch Mieter durch die Finger. Die Leistungen der Lebensversicherungen haben sich verringert, das Geld auf Festgeldkonten hat keine Rendite mehr erwirtschaftet, die Mieten steigen. Wer jetzt beim Vermögensaufbau umsteigt in reale Werte, tut sich erheblich schwerer.

Der bittere Beigeschmack: Die EZB schenkt den Menschen erst dann reinen Wein ein, wenn die Kolateralschäden nicht mehr wegzuleugnen sind. Bei der steigenden Inflation etwa bemüht sich die EZB noch in Zweckoptimismus. Dabei musste sie ihre Inflationsprognosen für das vergangene Jahr bereits laufend nach oben korrigieren – kein guter Weg, um das Vertrauen der Bürger in ihre Politik zu stärken.

Noch etwas anderes stößt sauer auf: Die Folgen der bisherigen Politik sind nicht mehr umkehrbar. Wie die “Welt” schreibt: “Durch ‘Verlagerung des Policy-Mix weg von den Nettokäufen von Vermögenswerten’ gelobt man bei der EZB nun, eine Zunahme der Verteilungswirkung der Maßnahmen zu verhindern. Doch die Einsicht kommt zu spät.Die geldpolitischen Mittel sind ausgereizt, der über ein Jahrzehnt gestreckte Einmaleffekt einer Umverteilung von unten nach oben ist unumkehrbar vollzogen – und die Gesellschaft gespalten in Gewinner und Verlierer der EZB-Politik.”