Es war die nächste Blamage für den „Spiegel“ nach dem Relotius-Skandal. Das deutsche Magazin musste im November drei Artikel und einen Podcast über das verstorbene Flüchtlingsmädchen Maria von seiner Website entfernen (der eXXpress berichtete). Die tragische Geschichte im türkisch-griechischen Grenzgebiet hatte im August für internationale Schlagzeilen gesorgt – nur dürfte sie über weite Strecken so nie stattgefunden haben. Das fünfjährige Flüchtlingsmädchen gibt es nämlich nicht.

Der „Spiegel“ versprach Aufklärung – doch blieb das wohl ein leeres Versprechen. Nun stellt sich nämlich heraus: Das deutsche Nachrichtenmagazin täuscht die Öffentlichkeit anscheinend weiterhin. Es geht um Baidaa S., jene 27-jährige Syrerin, die den Journalisten diese erfundene Geschichte aufgetischt hat. Diese junge Frau gibt es zwar tatsächlich, nur dürfte nur eine Rolle gespielt haben.

Baidaa S. in Deutschland

Geschminkt und gut gekleidet auf Instagram und TikTok

Der Öffentlichkeit wurde Baidaa als verzweifelte Sprecherin einer 38-köpfigen Flüchtlingsgruppe präsentiert, die selbst auf der Flucht war. Doch dass Baidaa nach Deutschland überhaupt fliehen musste, scheint nach jüngsten Erkenntnissen zweifelhaft. Auf ihren Social-Media-Kanälen – in der Zwischenzeit wurden alle gesperrt – hatte sie chillige Bilder aus aller Welt gepostet. Besonders oft war sie in Istanbul und Deutschland zu sehen, stets gut gekleidet und geschminkt, und schon gar nicht mit geschwollenen Augen, wie im „Spiegel“. Der Kontrast könnte krasser kaum sein. Baidaa entpuppt sich nun als kosmopolitische Influencerin, die bereits sechs Bücher geschrieben hat.

Nachrecherchiert hat das alles die „Neue Zürcher Zeitung“. Sie hat auch Screenshots von den nicht mehr öffentlich zugänglichen Instagram- und Tiktok-Accounts der Influencerin angefertigt. „Im März 2021 etwa publiziert sie auf Instagram ein Bild, auf dem eine Frau eine Kaffeetasse hält und ein Buch liest, die Beine bedeckt mit einem flauschigen Stoff. Als Standort ist ‚Germany‘ angegeben“, schreibt die NZZ.

Dieses Bild ging um die Welt.

Die Journalisten gaben die Auskünfte eins zu eins weiter

Die Schweizer Tageszeitung geht mit den deutschen Kollegen hart ins Gericht. Sie kritisiert scharf solchen Kampagnen-Journalismus, der sich anscheinend auf vorgetäuschte Tatsachen stützt: „Der ‚Spiegel‘ lanciert eine Kampagne gegen die Migrationspolitik der EU, die mutmaßlich auf Fake News und den Inszenierungen einer jungen Frau basiert. Statt das eigene Versagen ehrlich aufzuarbeiten, täuscht er die Öffentlichkeit bis heute.“ Die NZZ fragt: „Sind die Macher des auflagenstärksten, in Deutschland meistzitierten Leitmediums bloß naiv – oder verbergen sie absichtlich, dass sie einer mehr phantasiebegabten als vertrauenswürdigen Zeugin aufgesessen sind?“

Die NZZ berichtet auch, wie die Artikel über die vermeintliche Flüchtlingstragödie entstanden sind. Baidaa S. ist die Hauptquelle. „Sie steht ab Juli 2022 per Handy in Kontakt mit griechischen NGO wie Alarm Phone und Humanrights 360, verschickt Bilder, Videos und Hilferufe. ‚Niemand will uns, niemand hilft uns‘, sagt sie in einem Video auf Englisch, den Tränen nahe, ‚ich sterbe vor Hunger und vor Durst, ich sterbe mental und physisch.‘ Auch ihre 70-jährige Grossmutter sei in Gefahr. Die NGO-Anwälte geben Baidaa S.’ Nummer an ausgewählte Journalisten weiter, allen voran an Giorgos Christides, den Griechenland-Korrespondenten des ‚Spiegels‘. Was Baidaa S. erzählt, geben Journalisten zum Teil eins zu eins an ihr Publikum weiter.“

Kurz nach ihrer Ankunft in Griechenland verschwand Baidaa S. plötzlich. Die NZZ konnte ihre Wohnung ausfindig machen. Nachdem die gebürtige Syrerin die Wohnungstür vorsichtig öffnet, lässt sie die NZZ-Journalisten wissen: „Nein, sie wolle nicht mehr über die Insel und über Griechenland sprechen.“ Baidaa hat mittlerweile kein Interesse an Gesprächen mit Journalisten. Jetzt nicht mehr.