Beinahe textidentisch hatten zwei deutsche Medien am 7. März berichtet: Eine pro-ukrainisches Gruppe aus sechs Personen, darunter vier Taucher, soll eine Jacht in einem Hafen gemietet und anschließend den Sprengstoff an beiden Nord-Stream-Pipelines angebracht haben. „Was für ein Schmarren! Was erzählen die einem da?“ Das war der erste Gedanke, den Kai dazu hatte, wie er dem eXXpress mitteilt. Mit seinem vollständigen Namen möchte der Tauch-Experte nicht zitiert werden, er ist auch in der Politik tätig. Die Ostsee und das Tauchen kennt er wie kein Zweiter: Sein Vater war Kampfschwimmer und hat später in der Ostsee eine Tauchschule gegründet. Kai erlernte dort das Tauchen im Alter von drei Jahren.

Zwei Mal – an beiden Gas-Piplelines – mussten die Saboteure ihr Können unter Beweis stellenSwedish Coast Guard / Handout/Anadolu Agency via Getty Images

Zehn Stunden unter dem Meer, dazu noch eine Dekompressionskammer

70 Meter tief tauchen, dabei Sprengstoff transportieren, sich dort unten orientieren, dann wieder auftauchen: Für Laien mag das einfach klingen, doch in Wahrheit ist jeder Bestandteil dieses Sabotage-Akts eine Herkulesaufgabe. „Das müssen militärische Profis gewesen sein, die eine andere Ausbildung haben als etwa Sporttaucher“, sagt Kai.

Allein der Tauchvorgang muss mindestens zehn Stunden gedauert haben, wie er berechnet hat. Das liege am langen Auftauchen. „Das ist das Schwierigste. Je tiefer Sie tauchen, desto höher wird der Wasserdruck und desto mehr drücken sich die Lungenflügel zusammen. Diesen Effekt müssen Sie beim Auftauchen umkehren – und deshalb alle fünf Meter anhalten, um ihre Lunge zu schonen.“ Die Lunge muss sich an den geringer werdenden Druck gewöhnen. Taucht man zu schnell auf, platzen die Lungenbläschen, es droht eine Lungenembolie – „die Taucherkrankheit“.

Ein Kampftaucher beim Einsatz

Wenn die Lunge überdehnt und Luft in den Blutkreislauf gepresst wird, kann das zu Lähmungen oder sogar zum Tod führen. „Deshalb geht jeder Profi-Taucher ohne eine Dekompressionskammer nirgendwohin.“ In so einem luftdichten, druckfesten Behälter werden verunglückte Taucher sofort untergebracht. Das sechsköpfige Sabotage-Team hätte eine solche Kammer ebenfalls bei sich haben müssen. „Darin muss man dann Stunden oder Tage verbringen. Ich selbst war schon einmal drei Tage drin. Das ist wirklich kein Kindergeburtstag“, sagt Kai.

Eine Dekompressionskammer von außen...
... und von innen.

Keine Chance in der Ostsee unentdeckt zu bleiben

Dieser lange Tauchvorgang muss bei beiden Pipelines stattgefunden haben. Schlicht ein Rätsel ist, wie das Team samt Jacht so lange unentdeckt geblieben ist. „Sechs NATO-Staaten überwachen die gesamte Ostsee. Wenn sich dort jemand bei einer so wichtigen Infrastruktur länger aufhält, kommt spätestens nach drei Stunden ein Küstenboot oder ein Hubschrauber vorbei. Man bleibt nicht unentdeckt.“

Die Attentäter müssen darüber hinaus eine registrierte Jacht gemietet haben – unregistriert sind nur die kleinsten Schiffe. Doch diese Jacht hätte allerhand mitnehmen müssen: Zum 450 Kilogramm schweren Sprengstoff und zur Dekompressionskammer kommen noch Pressluftflaschen hinzu, in die Luft mit einem Kompressor gefüllt wird. Es gilt: Je tiefer im Meer man ist, desto schneller verbraucht man diese Druckluftflaschen.

Das hätte das Team Druckluftflaschen mit Mischgas, und zwar in hohen Mengen, gebraucht.

Entsprechender Gasvorrat hätte ebenfalls dabei sein müssen. „In der Tiefe muss man anderes Atemgas einsetzen, ein sogenanntes Mischgas“, sagt Kai. Zu den beiden Gasen Sauerstoff und Stickstoff kommt noch Helium hinzu. Die Mischung muss genau stimmen.

Die Ostsee: Man sieht nichts, zahlreiche Strömungen können einen sofort mitreißen

Darüber hinaus ist die Ostsee ein ganz besonderes Meer: „Sie ist ein trübes Gewässer, im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt Kai. „An den besten Tagen reicht Ihre Sicht zwei, drei Meter weit. Meistens sehen Sie nicht einmal Ihre Hand, schon gar nicht in der Tiefe.“ Als Binnenmeer hat die Ostsee darüber hinaus „Strömungen ohne Ende – Über-, Unter und Gegenströmungen. Das ist ganz anders als in der Nordsee oder auf dem Atlantik. Man muss genau wissen, wo man schwimmt.“ Aus eigener Erfahrung weiß der Tauch-Experte zu berichten: „Wenn man am Meeresboden von einer Strömung erfasst wird, dann wird man 10, 20, teils sogar 100 Meter mitgerissen. Man kann sich dann nur flach machen, mitziehen lassen und hoffen, dass alles schnell aufhört.“

Ein Leuchtturm in Norddeutschland: Die Ostsee ist ein trübes Gewässer und nicht der Atlantik. Hier gibt es unzählige Strömungen und unter Wasser fast keine Sicht.APA/dpa/Jens Büttner

Endgültig an einen James-Bond-Film fühlt sich der Tauchexperte erinnert, wenn es um den Transport des Sprengstoffs geht. „Wie bringen Sie diese Menge in die Tiefe? Wenn Sie den Sprengstoff in der Ostsee hineinkippen, garantiere ich Ihnen: Sie würden ihn nie mehr finden.“ Man bräuchte für den Transport eine Seilwinde oder ähnliches. „Nur dafür benötigt man wieder eine Windung. Allerdings ankert kein Schiff in dieser Tiefe“ Auf dem Meeresgrund sieht man nichts. Man hat auch kein GPS. „In 70 Metern Tiefe findet man nicht einmal so einfach die Röhren. Die müsste man zunächst wohl freischaufeln.“

Die Variante des Pulitzerpreis-Trägers klingt noch glaubhafter

Für den Tauch-Experten steht fest: Das Sabotage-Team hätte das alles an beiden Pipelines nicht durchführen können, schon gar nicht unentdeckt. Wie alles tatsächlich vor sich gegangen ist, darüber kann Kai auch nur rätseln. Er hat aber eine Hypothese: Dass das alles am Rande einer NATO-Übung im vergangenen Jahr geschehen ist, wie Pulitzerpreis-Träger Seymour Hersh zuvor berichtet hatte, hält er für glaubhafter. Denn möglicherweise wurde dabei die Dauer-Beobachtung des Meeres ausgeschaltet. „Die Hersh-Geschichte ist aber auch etwas schräg. Ich persönlich würde auf Mini-U-Boote tippen. Kampfschiffe wären dann in der Nähe stationiert, in denen alle nötige Technik der Welt ist, auch um Leben zu retten.“

Das sei aber keine Experten-Meinung – „weil ich nie ein U-Boot benützt habe.“ Wie auch immer: Eine abgewandelte Story von Hersh erscheint dem Tauchexperten immer noch glaubhafter, als die jüngste Version, die einige deutsche Medien präsentiert haben.