Politik und Alkohol haben viel gemeinsam, und das nicht nur deshalb, weil einige Politiker gerne tiefer ins Glas schauen. Diese Erkenntnis gewinnt man bei der Lektüre von Thilo Sarrazins neuem Buch, und es ist nicht die einzige.

Kampf wider politisches Wunschdenken

Sarrazins jüngstes Buch – sein siebentes, seit seinem Ausscheiden aus der Politik – kreist vor allem um die Ohnmacht der Politiker in der Praxis. Mit nur 128 Seiten ist es wesentlich kürzer als seine Vorgänger. Es wurde auch nicht zum ganz großen Aufreger, den “Feindliche Übernahme” oder “Deutschland schafft sich ab” – eines der meistverkauften Sachbücher seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland – bis heute sind. Doch es ist dennoch ein “echter Sarrazin”. Das beweist schon der Titel: “‘Wir schaffen das’: Erläuterungen zum politischen Wunschdenken”.

Das Wort “Wunschdenken” taucht mittlerweile zum dritten Mal in einem Buchttitel Sarrazins auf. Diesem Wunschdenken, dem Sarrazin jahrelang aus nächster Nähe beiwohnen musste, ob im Finanzministerium, oder später im Berliner Senat, hat er letztlich den Kampf angesagt. Wie schon Sarrazins nach wie vor lesenswertes Buch “Europa braucht den Euro nicht: Wie uns politisches Wunschdenken (sic!) in die Krise geführt hat” zeichnet sich auch sein Neuling durch Eindrücke aus, die Sarrazin aus erster Hand gewinnen konnte.

Politiker brauchen einen alkoholisierten Blick

Der Politiker habe meist weit weniger Macht, als man glaubt. Er müsse dauernd zu Leuten freundlich sein, “die er entweder nicht kennt oder verabscheut”. Seine eigene Meinung dürfe er nur sehr dosiert äußern, und er müsse “Interesse an Fragen heucheln, die ihn langweilen”. Das sei einer der Gründe, weshalb Politiker auch gerne zu verschiedensten Drogen greifen.

Sarrazin erkennt aber noch eine weitere innere Verbindung zwischen Politik und Alkohol: Politiker müssten permanent kompromissfähig sein. Dafür bräuchten sie einen leicht verschwommenen, nicht allzu tiefen Blick in die Materie: “Die politische Sicht auf Probleme, die den Kompromiss befördert, ist oft dem alkoholisierten Blick gar nicht so unähnlich.”

Eheliche Treue hat in der Politik Seltenheitswert

Auch sonst will Thilo Sarrazin mit Klischees aufräumen, etwa wenn er schreibt: “Politik besteht zu 80 Prozent aus entsetzlichen Banalitäten”. Sogar Intimbereiche spart er nicht aus, wenn er auf den Lebenswandel von Politikern eingeht. So gehöre “eheliche Treue unter den mir bekannten Politikern zum absoluten Ausnahmesachverhalt”.

Angela Merkel bekommt ebenfalls ihr Fett ab, ihr berühmt-berüchtigtes Zitat ziert ja den Titel. Die scheidende Bundeskanzlerin habe überall das Gegenteil dessen getan, was sie einst versprochen hat, konstatiert Sarrazin nüchtern. Vor allem habe sie während ihrer Amtszeit drei ebenso weitreichende, wie grundfalsche Entscheidungen gefällt, und das ganz ohne Not: Aus der EU machte sie eine Schuldenunion, für Massen irregulärer Migranten öffnete sie die Tore, und aus der Atomenergie hat sie den vollständigen Ausstieg eingeleitet.

Sarrazin spricht vieles offen aus

Basierend auf seinen eigenen Erlebnissen und Überzeugungen – dem englischen Rationalismus – spricht Sarrazin über die Grundlagen von Politik und Staatsführung, in verständlicher und entlarvender Weise. Im Gegensatz zu anderen Politiker-Büchern ist dieses mit Sicherheit nicht abgeschrieben, und enthält auch – das ist ebenfalls ein erfreulicher Kontrast – anregende Gedanken. Oft sagt Sarrazin nicht unbedingt Neues, er spricht es nur offen aus.

Die Frage hinter dem Ganzen: Kann Politik überhaupt gestalten und wenn ja wie weit? Nun, Sarrazin ist skeptisch, aber nicht pessimistisch. Wer mehr wissen will, dem sei das Buch als Lektüre während des Sommers empfohlen.