Sämtliche Experten ist klar: Europa steuert auf eine jahrelange Energiekrise zu. Russland hat vor der Ukraine-Invasion etwa ein Drittel der europäischen Erdgasimporte abgedeckt. Nun hat es seine Lieferungen als Reaktion auf die Sanktionen massiv gedrosselt. Mit den Explosionen an der Nord-Stream-Pipeline ist der Rückgang der Gaslieferungen nach Deutschland praktisch einzementiert.

Nun gibt es allerdings Ersatzmöglichkeiten. Unter den Niederlanden befindet sich die größte Erdgasreserve Europas. Das weitläufige Groningen-Feld verfügt über genügend ungenutzte Kapazitäten, um bereits in diesem Winter einen Großteil jenes Brennstoffs zu ersetzen, den Deutschland einst aus Russland importiert hat.

Doch es passiert – nichts. Im Gegenteil.

Eine Gasförderanlage in der Nähe von Garelsweerd in der nordniederländischen Provinz GroningenAPA/AFP/JOHN THYS

Anrainer klagen über Erdbeben

Das Feld wird nun sogar stillgelegt, und die Niederlande lehnen Forderungen ab, mehr zu pumpen, obwohl sich Europa auf den vielleicht härtesten Winter seit dem Zweiten Weltkrieg vorbereitet. Der Grund: Die Bohrungen haben mehrfach zu Erdbeben geführt, zum Zorn der Anrainer, deren Sorgen die Regierung lange nicht genügend ernst genommen hat. Nun getraut sich die Regierung in Amsterdam nicht, wieder mehr zu pumpen.

Europas selbstverschuldete Energiekrise
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Groningen ist seit 1963 eine tragende Säule der europäischen Gasversorgung. Selbst nach einem halben Jahrhundert gibt es noch etwa 450 Milliarden Kubikmeter förderbares Gas in Reserve – im Wert von etwa 922 Milliarden Euro. Noch wichtiger ist, dass nach Angaben von Shell Plc, einem der beiden großen Partner, die am Betrieb der Lagerstätte beteiligt sind, jährlich um 50 Milliarden Kubikmeter mehr gefördert werden könnten als zurzeit.

Ungenügende Entschädigung für Hausbesitzer

Die Einheimischen wollen jedoch, dass sich der Kontinent anderweitig umsehen muss. Sie sind verärgert über die Behörden. Wilnur Hollaar, 50, lebt seit fast zwei Jahrzehnten in Groningen. Er macht gegenüber Bloomberg seinem Unmut Luft: „Als ich dieses Haus 2004 kaufte, war es ein Palast. Aber wie Tausende von Häusern in der Gegend wurde es durch Erdbeben beschädigt. Es ist voller Risse und die Fassade sinkt. „Mein Haus hat sich in eine Ruine verwandelt“, sagt er.

Teilnehmer eines Fackelprotests gehen am 15. Januar 2022 durch das Zentrum von Groningen, um sich gegen die Gasförderung zu wehren.APA/AFP/ANP/Remko de Waal

Das Resultat: Die niederländische Regierung will trotz der wachsenden Notlage in der EU die ungenutzten Gasvorräte nicht nutzen. Gleichzeitig hat sie die Bewohner in der Region für die Zerstörungen an ihren Häusern nicht ausreichend entschädigt. Hollaar wurde für den Schaden an seinem Haus in Roodeschool eine Entschädigung von nur 12.000 Euro angeboten. Er schätzt, dass der Wert seines Hauses um 550.000 Euro gesunken ist.

Europäische Politiker erhöhen den Druck auf Amsterdam

Der niederländische Bergbauminister Hans Vijlbrief sagt, es sei gefährlich, weiter zu fördern, aber das Land könne das Leid in anderen Teilen Europas nicht ignorieren. Ein Gasmangel „könnte uns zu dieser Entscheidung zwingen“, sagt er und fügt hinzu, dass es ein Sicherheitsproblem sein könnte, wenn Krankenhäuser, Schulen und Wohnungen nicht mehr richtig beheizt werden können.

Der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton meinte kürzlich, die Niederlande sollten ihre Entscheidung, Groningen zu schließen, noch einmal überdenken. Vijlbrief wurde zu diesem Schritt auch von Kollegen aus anderen EU-Ländern gedrängt, aber das Land bleibt vorerst bei seiner Haltung.

Oktober 2022: Ministerpräsident Mark Rutte im Untersuchungssaal des Abgeordnetenhauses während einer öffentlichen Anhörung zur Erdgasförderung in GroningenAPA/AFP/ANP/Jeroen JUMELET

Seit 2014 hat die niederländische Regierung die Förderung aus dem Feld immer stärker eingeschränkt, und die Fördermenge sank von 54 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2013 auf voraussichtlich 4,5 Milliarden Kubikmeter in diesem Jahr.

Premierminister Mark Rutte schließt nicht völlig aus, dass Groningen zur Aufstockung der Versorgung genutzt wird, aber nur im Extremfall, „wenn alles schief geht“, sagt er, und das sei im Moment nicht der Fall. Noch nicht.