Im Westen ist zuletzt viel darüber spekuliert worden, dass Russland die Raketen ausgehen würden. Moskau hat darauf nun eine Antwort gegeben: Am vergangenen Freitag haben die russischen Streitkräfte einen erneuten Großangriff auf ukrainische Städte wie Kiew, Charkiw und Kriwi Rih durchgeführt.

Neben zahlreichen Menschenopfern wurde die ukrainische Energieinfrastruktur wieder massiv beschädigt. Seit dem 10. Oktober hat Russland in mehreren Wellen gezielt die zivile Infrastruktur der Ukraine angegriffen. Das Ziel: Moskau will die Bevölkerung während des eisigkalten Winters in der Ukraine demoralisieren und in die Flucht treiben.

Bisher ist die Ukraine erstaunlich rasch in der Lage gewesen, Reparaturen vorzunehmen und die Versorgung mit Strom und Wasser halbwegs wiederherzustellen.

Energieversorgung der Ukraine wird noch jahrelang beeinträchtigt bleiben

Allerdings scheint der Zustand der Elektrizitätsanlagen im Land schlechter zu sein, als man das aufgrund der jeweils rasch vorgenommenen Reparaturen meint. „Jeder neue Angriff schwächt das ukrainische Hochspannungsnetz weiter“, erklärte der Infrastrukturspezialist Davor Bajs von der internationalen Organisation Energy Community in Wien gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung.

„Der Grad der Zerstörung nimmt laufend zu, daran ändern die Reparaturarbeiten nichts.“ Bajs befürchtet, dass Reparaturen eines Tages nicht mehr möglich sein werden und das Hochspannungsnetz zusammenbricht. „Kleine Schäden an ihm kann man reparieren, große nicht.“

Der Fachmann glaubt zudem, dass die von Russland angerichteten Schäden für die Ukraine noch lange eine große Belastung darstellen werden. „Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ginge, die Energieversorgung des Landes wäre noch jahrelang beeinträchtigt.“ Laut Bajs beschießt Russland gezielt Umspannwerke, denen bei der Stromversorgung eine Schlüsselrolle zukommt. Diese Einschätzung deckt sich mit Aussagen von Vertretern der ukrainischen Elektrizitätswirtschaft.

Das Kernkraftwerk Saporischja ist mit sechs Generatoren das größte Europas, es ist von russischen Truppen besetzt

Stromausfälle gefährden die Sicherheit der Atomkraftwerke in der Ukraine

Groß ist dabei auch die Bedeutung der Atomkraft. Die Nuklearanlagen der Ukraine bereiten Energiespezialisten allerdings weiterhin Sorgen. Vor dem 24. Februar stammten 50 Prozent des ukrainischen Stroms aus Atomkraft. Die riesige Anlage von Saporischja mit ihren sechs Reaktoren ist mittlerweile vom Netz; nun sind noch drei Werke in Betrieb.

Atomkraftwerke benötigen Strom, um die Brennelemente zu kühlen. Fällt er aus, drohen diese zu überhitzen. Für diesen Notfall verfügen Atomkraftwerke über Dieselgeneratoren, die bis zu zehn Tage Überbrückung leisten. Danach muss wieder Strom für Kühlung sorgen. Auch deshalb darf das Stromnetz der Ukraine keinesfalls zusammenbrechen – sonst drohe ein Atomunfall, sagen Experten. Und davon wäre auch Westeuropa betroffen.