Anfang Dezember 2022 hatte der Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes noch Hoffnung versprüht: Schon bald müsste Moskau seine groß angelegten Luftangriffe einstellen. Russlands Vorräte an Präzisionsraketen gingen zur Neige, das Arsenal reiche nur noch für wenige große Angriffe, erklärte Kyrylo Budanow im staatlichen Fernsehen.

Sechs Monate später räumt Budanows Stellvertreter Vadym Skibitsky ein: Russland dürfte zwar seine Raketenvorräte tatsächlich aufgebraucht haben. Nur leider konnte Moskau erfolgreich eine Produktionslinie für neue Munition einrichten. Darauf deuten Bruchstücke russischer Raketen hin. Sie dürften soeben „das Fließband verlassen haben“, sagte der Vize-Chef des militärischen Nachrichtendienstes am 19. Mai gegenüber dem Sender RBC-Ukraine.

Moderne russische Flugabwehrraketen 5V27DEGetty

Marschflugkörper, Kalibr-Raketen, Iskander-System, Hyperschallraketen

Skibitsky zufolge ist Russland in der Lage, bis zu 67 Raketen pro Monat zu produzieren, darunter 35 Marschflugkörper vom Typ Kh-101, 25 Kalibr-Marschflugkörper, fünf ballistische Raketen vom Typ M723 für das Iskander-M-System und zwei ballistische Hyperschallraketen vom Typ Kinzhal.

Für die Ukraine ist das ein schwerer Schlag. Seit Herbst 2022 setzen massive Raketenangriffe dem Land zu. Entgegen den Durchhalteparolen ist nun kein Ende in Sicht.

Einige Raketen haben auch Wohngegenden erwischt und Zivilisten getötet.

Damit werden sämtliche Ankündigungen Lügen gestraft, denen zufolge den Russen die Raketen bald ausgehen würden. Seit März 2022 ist beinahe kein Monat vergangen, in dem das nicht in Aussicht gestellt worden ist, meist unter Berufung auf westliche Geheimdienste (siehe unten). Speziell das britische Verteidigungsministerium war hier sehr optimistisch und mit seinen Prognosen mehrmals wohl ein wenig voreilig.

Der Westen setzte seine Hoffnung auf Sanktionen

Die neuen Erkenntnisse belegen: Moskau konnte weiterhin Komponenten für fortschrittliche Munition erwerben, und das trotz der westlichen Sanktionen, die eigentlich genau das verhindern sollten. Die Vereinigten Staaten, die EU und wenige weitere Staaten hatten nach der Ukraine-Invasion unter anderem den Verkauf von Hochtechnologie an Russland verboten. Die Wirksamkeit dieser Maßnahme wurde offensichtlich überschätzt.

Noch im September 2022 hatte der niederländische Admiral und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Rob Bauer gegenüber Reuters erklärt: Die Russen „würden durch die Sanktionen mehr und mehr behindert, weil einige der Komponenten, die sie für ihre Waffensysteme benötigen, aus der westlichen Industrie stammen.“ Und: „Wir sehen jetzt die ersten ernsthaften Anzeichen dafür, was etwa ihre Fähigkeit betrifft, den Ersatz von Marschflugkörpern und fortschrittlicheren Waffensystemen zu produzieren.“

Admiral Rob Bauer hoffte auf ein Ende von Russlands Waffenproduktion.AÜA/AFP/ANP/Lex van LIESHOUT

Auch der Chef der EU-Außenpolitik, Josep Borrell, war damals überzeugt: Die EU-Sanktionen verursachten einen Technologieverlust Moskaus und würden Russland so die Fähigkeit nehmen, seine Waffenproduktion aufrechtzuerhalten.

Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell (r.) war sicher: Wegen der Sanktionen werde Russland nicht länger moderne Waffen produzieren können. Im Bild mit Präsident Wolodymyr Selenskyj.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/Foto von Stringer

Westliche Technologie findet Ausweichrouten nach Russland

Im Gegensatz dazu erklärte Präsident Wladimir Putin im selben Monat im russischen Staatsfernsehen: „Die Taktik des wirtschaftlichen Blitzkriegs hat nicht funktioniert.“ Auch andere westliche Experten waren zurückhaltender mit euphorischen Ankündigungen und teilten nicht diesen Optimismus. Markus Schiller, CEO der Analyse- und Beratungsfirma ST Analytics für Raketen und Raumfahrt in München, meinte etwa im Jänner: Mögliche Materialprobleme für Russland könnten sich „erst in wenigen Jahren“ offenbaren.

Tatsächlich gelangt westliche Technologie nach wie vor nach Russland, bis heute, allerdings nicht mehr auf direktem Weg, sondern über Umwege wie die Türkei, Kasachstan, Kirgistan und Armenien – der eXXpress berichtete. Armenien etwa ist im vergangenen Jahr auf einmal ein „florierender Umschlagplatz für Hightech und Industriegüter aller Art geworden”, wie der „Spiegel” festgehalten hat.

„Es gibt einfach viel zu viele Lücken im Sanktionsregime”, erklärte kürzlich Wirtschaftsexperte Gabriel Felbermayr, Chef des WIFO-Instituts. Abseits der EU und der USA beteiligen sich kaum Staaten an den Strafmaßnahmen. Deshalb falle die Wirkung „viel geringer aus, als bei den umfassenden Embargos gegen Nordkorea oder Kuba“. Die Sanktionen seien „als Waffen stumpf“.

Moskau hat mittlerweile die ukrainische Luftverteidigung im Visier

Unterdessen geht Russlands Beschuss auf die Ukraine weiter. Das russische Militär dürfte dabei seine Raketen-Strategie geändert haben, meint der Vize-Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes Skibitsky. Im Winter zielte der Beschuss noch darauf ab, die Energiestruktur der Ukraine lahm zu legen. Jetzt hat Russland seinen Schwerpunkt auf die ukrainische Luftverteidigung, einschließlich der neu gelieferten US-Patriot-Systeme, und auf die Störung der Kiewer Vorbereitungen für eine Gegenoffensive verlagert.

Seit März 2022 kündigen Medien ein Ende von Russlands Raketenangriffen an: