Die Neujahrsansprache von Bundespräsident Alexander Van der Bellen dreht sich auch heuer um die Corona-Pandemie und ihre Folgen für die Gesellschaft. Es sei schwer, die Hoffnung nicht aufzugeben, meinte das Staatsoberhaupt in der Rede, die Samstagabend im ORF ausgestrahlt wird. “Und trotzdem: Wir dürfen den Mut nicht verlieren.” Man müsse weiterhin auf einander achtgeben, appellierte Van der Bellen, zusammenzuhalten.

Je länger der Ausnahmezustand anhielt, “desto deutlicher machten sich Gräben in unserer Gemeinschaft bemerkbar”, bedauerte Van der Bellen. Auf Ungeduld, Skepsis, Kritik, Empörung und Enttäuschung folgten “Wut, Zorn, Angst; Stimmen, die alles besser wissen, Stimmen von Misstrauen, Stimmen, die von Verschwörungen sprechen, von Unversöhnlichkeit, aber auch echte Verzweiflung”, meinte der Bundespräsident. “Heute sind diese Stimmen zum Teil so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Geschweige denn das des anderen.”

"Es ist schwer, sich da nicht vom Ärger überwältigen zu lassen"

Ein Ende von Corona sei noch lange nicht in Sicht, erklärte Van der Bellen mit Blick auf die neue Omikron-Variante. Ehrlicherweise wisse man nicht, was die nächsten Tage und Wochen bringen werden. “Es ist schwer, da nicht teilnahmslos zu werden. Es ist schwer, da nicht die Hoffnung aufzugeben. Es ist schwer, sich da nicht vom Ärger überwältigen zu lassen”, zeigte Van der Bellen Verständnis. “Und trotzdem: Wir dürfen den Mut nicht verlieren.” Dies sei jetzt “unsere Pflicht als Staatsbürger”, nämlich “nicht loslassen, dranbleiben, füreinander da sein”. Van der Bellen erinnerte an die Zeile “Mutig in die neuen Zeiten” – “das sind die Tage, in denen wir unsere Bundeshymne mit Leben erfüllen”, hofft der Bundespräsident.

“Wir dürfen uns nicht von Verzweiflung und Wut beherrschen lassen. Es darf uns nicht alles wurscht sein.” Neben Abstand halten, Maske tragen, sich impfen lassen und Hände waschen gehe es darum, auf einander achtzugeben. “Es wäre ein Fehler, glaube ich, jetzt andere, die nicht der eigenen Ansicht sind, herabzusetzen”, mahnte Van der Bellen. Alle stünden unter Druck, trotzdem müsse man an das Gute im anderen glauben. So solle man sich an der Hingabe der Mitarbeiter im Gesundheitsbereich ein Beispiel nehmen, “die seit langer, langer Zeit an und über ihrem Limit sind und jetzt auch noch dafür attackiert werden, dass sie für andere da sind”.

Es gehe nicht darum, immer einer Meinung zu sein, aber man müsse wieder mehr ins Gespräch kommen, glaubt der Bundespräsident, und dazu solle man jede Gelegenheit nutzen. Irgendwann werde man auf die Zeit der Pandemie zurückblicken und sagen: “Gut, dass wir unsere Entspanntheit wiedergefunden haben. Und unseren Mut und unsere Zuversicht nie verloren haben. Gut, dass wir einander noch in die Augen schauen können”, meinte Van der Bellen. “Ich wünsche Ihnen und uns allen gemeinsam ein großartiges Jahr 2022. Trotz allem.”

Die Neujahrsansprache des Bundespräsidenten im Wortlaut:

“Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die in Österreich leben!

Vor zwei Jahren haben wir “Ibiza” hinter uns gebracht. Vielleicht erinnern Sie sich. Ich habe an dieser Stelle davon gesprochen, wie wichtig es für unsere Gesellschaft ist, Mut und Zuversicht zu bewahren. Und für einen kurzen Augenblick, damals vor zwei Jahren, schien es ja so, als ob sich nach einer Regierungskrise und den darauffolgenden Neuwahlen wieder so etwas wie Normalität einstellen würde in unserem Land.

Und dann kam Corona.

Und am Anfang, ganz am Anfang dieser Pandemie, Sie erinnern sich sicher, war noch ein großer Zusammenhalt spürbar in unserer Gesellschaft. Wir sind z.B. abends am Fenster gestanden, haben den Pflegerinnen und Pflegern, den Ärztinnen und Ärzten applaudiert, die schon damals alles gegeben haben, um anderen zu helfen.

Aber je länger dieser Ausnahmezustand anhielt, erster Lockdown, zweiter Lockdown, wieder ein Lockdown und noch einer, desto deutlicher machten sich Gräben in unserer Gemeinschaft bemerkbar. Erste Stimmen von Ungeduld, Skepsis, Kritik, Empörung, Enttäuschung wurden laut. Und im Laufe der Zeit kamen immer mehr dazu, die einander zu übertönen begannen: Wut, Zorn, Angst; Stimmen, die alles besser wissen, Stimmen von Misstrauen, Stimmen, die von Verschwörungen sprechen, von Unversöhnlichkeit, aber auch echte Verzweiflung. Heute sind diese Stimmen zum Teil so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Geschweige denn das des anderen.

Und ein Ende von Corona ist noch lange nicht in Sicht. Denn gerade als wir dachten, wir hätten das Schlimmste hinter uns, kam Omikron um die Ecke. Und ehrlicherweise wissen wir nicht wirklich, was uns die nächsten Wochen, ja die nächsten Tage diesbezüglich bringen werden. Und selbst diese Ungewissheit sind wir mittlerweile gewohnt.

Es ist schwer, da nicht teilnahmslos zu werden. Es ist schwer, da nicht die Hoffnung aufzugeben. Es ist schwer, sich da nicht vom Ärger überwältigen zu lassen.

Und trotzdem: Wir dürfen den Mut nicht verlieren.
Wir dürfen den Mut nicht verlieren.

Das ist jetzt unsere Pflicht als Staatsbürger. Nicht loslassen. Dranbleiben. Für einander da sein. Wissen Sie noch? “Mutig in die neuen Zeiten?” Das sind die Tage, in denen wir unsere Bundeshymne mit Leben erfüllen. Wir dürfen uns nicht von Verzweiflung und Wut beherrschen lassen. Es darf uns nicht alles wurscht sein. Wir müssen, selbst wenn es schwerfällt, die Herzen geöffnet halten, aufeinander zugehen und füreinander da sein. Und wir wissen ja, was nach wie vor hilft: Abstand halten, Maske tragen, impfen lassen, Hände waschen. Und auf einander achtgeben.

Denn viele Menschen sind in den letzten beiden Jahren an den Rand gedrängt worden. Es gibt viele, die akut von Armut bedroht sind. Es gibt sehr viele, deren Einkommen gesunken ist. Es gibt viele, die ihre Arbeit verloren haben. Und ja, es gibt viele, die einfach Angst haben.

"Wir müssen an das Gute im anderen glauben"

Meine Damen und Herren, es wäre ein Fehler, glaube ich, jetzt andere, die nicht der eigenen Ansicht sind, herabzusetzen. Wir stehen alle unter Druck.

Und trotzdem: Wir müssen an das Gute im anderen glauben.

Und das Gute im anderen, das gibt es. Das ist keine bloße Behauptung, das sehen wir ja jeden Tag. Menschen, die anderen selbstlos und bedingungslos helfen. Menschen, besonders die in Gesundheitsberufen, die seit langer, langer Zeit an und über ihrem Limit sind und jetzt auch noch dafür attackiert werden, dass sie für andere da sind.

Wir sollten uns an dieser Hingabe ein Beispiel nehmen. Wir müssen uns umeinander kümmern. Denn wir alle gemeinsam sind Österreich. Wir brauchen einander. Wir bedingen einander. Und eine große Mehrheit übernimmt diese gegenseitige Verantwortung, indem sie sich und andere schützt.

Meine Damen und Herren, Es geht nicht darum immer einer Meinung zu sein. Nein, im Gegenteil, es muss sehr viele, teils gegensätzliche Meinungen geben.

Aber trotzdem: Wir müssen wieder mehr ins Gespräch kommen.

Wie kommen wir wieder ins Gespräch? Wir begegnen uns ja kaum noch im öffentlichen Raum. Und online treffen wir meistens ja nur die, die ohnehin unsere Meinung teilen. Gegenseitig bestärkt haben wir uns da genug. Jetzt geht es darum, jede Gelegenheit zum respektvollen Gespräch zu nutzen. In der Bahn, am Arbeitsplatz, in der Familie, wo auch immer. Es geht darum, wieder zu lernen, eine andere Meinung zu hören, zuzulassen und ein Argument dagegen oder dafür zu finden. Und irgendwann zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Und wenn sie auch nur in urösterreichischer Manier lautet: Wir beide sind uns zwar nicht einig, aber ich mag dich trotzdem. Trotz allem.

Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle die hier leben, irgendwann – ich wage keine Prognose wann – werden wir gemeinsam zurückblicken auf die Zeit der Pandemie. Sie wird hinter uns liegen. Und wir werden sagen: Gut, dass wir unsere Entspanntheit wiedergefunden haben. Und unseren Mut und unsere Zuversicht nie verloren haben. Gut, dass wir einander noch in die Augen schauen können. Und dann widmen wir uns alle mit vereinten Kräften den vielen Herausforderungen, die vor uns liegen.

Ich wünsche Ihnen und uns allen gemeinsam ein großartiges Jahr 2022. Trotz allem.”