Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof hat in einem Gutachten für die Sparda-Banken die  Negativzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) als verfassungswidrig bezeichnet. Am Montag soll das Gutachten vorgestellt werden, die deutsche Tageszeitung “Welt” brachte vorab Auszüge daraus.

Kirchhofs Argument: Die EZB enteignet die Sparer und verletzt damit Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes, denn dieses garantiert Recht auf Privateigentum. Die Reaktionen aus der Politik sind unterschiedlich, den deutschen Wahlkampf könnte das Gutachten aber noch aufwirbeln, denn Deutsche wie Österreicher sind Völker von Sparern, weshalb sie unter der EZB-Politik massiv leiden.

Niedrige Zinsen entlasten Schuldner, belasten aber Sparer

Deutschland wie Österreich waren jahrzehntelang Hartwährungsländer. Dass sich daran mit der Europäischen Währungsunion nichts ändern würde und der Euro so hart wie die D-Mark (beziehungsweise der Schilling) sein werde, war Deutschen wie Österreichern 1999 versprochen worden – und danach nicht eingehalten worden. Heute gleicht der Euro eher einer europäischen Lira, mit Niedrigstzinsen und einer Geldmenge, die permanent ausgeweitet wird um damit Staatspapiere durch die EZB zu kaufen. Damit greift die EZB vor allem hochverschuldeten Südstaaten unter die Arme, werfen Kritiker der EZB vor.

Niedrige Zinsen entlasten den Schuldner, und niedrig sind die Zinsen in der Tat. Seit Juni 2014, also seit etwas mehr als sieben Jahren, liegt der Einlagenzinssatz der Zentralbank im negativen Bereich, zunächst bei minus 0,1 Prozent, mittlerweile bei minus 0,5 Prozent. Diese Negativzinsen betreffen zunächst die Geschäftsbanken: Sie müssen diese negativen Zinsen für jenes Geld bezahlen, das sie bei der EZB parken.

Verteidiger dieser ultralockeren Geldpolitik sehen in ihr ein Instrument, um die Kreditvergabe und Investitionen anzukurbeln – doch das ist nur eingeschränkt geschehen. Deutsche und Österreicher sparen wie eh und je, sie halten an ihrem Sparbuch fest, und daher geben die Banken nun diese Negativzinsen an ihre Kunden weiter.

Wer Immobilien und Aktien hat, profitiert

Mittlerweile gibt es auf Sparbüchern, Giro- und Tagesgeldkonten zwar keine Negativzinsen – dann würde wohl niemand mehr sein Geld auf der Bank hinterlegen – aber wegen des negativen Einlagenzinses so gut wie keine Zinsen mehr und gleichzeitig immer mehr “Verwaltungsentgelte”, die de facto mit Negativzinsen gleichgesetzt werden können. Sparen wie noch in den 1990er Jahren lohnt sich nicht mehr.

Deshalb sieht Kirchhof in den Negativzinsen eine Form von Enteignung, denn gespartes Geld ist immer weniger wert. Das Grundgesetz erlaube eine solche Enteignung nur zu einem höher gestellten Wohle aller Bürger. Der Staat müsste dann aber die Bürger dafür entschädigen. Verfechter der lockeren Geldpolitik argumentieren dagegen, dass es ja noch andere Anlageformen gibt. Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi riet den Deutschen etwa, ihr Geld in Sachwerten wie Aktien oder Immobilien anzulegen, denn damit fährt man in Zeiten wie diesen gut.

Sparen ist die Anlageform für Menschen mit geringem Vermögen

Das Gutachten weist diese Argumentation zurück und spricht von einer Benachteiligung der Bürger mit geringerem Vermögen: “Das Sparen darf nicht als Anlageform für die Bevölkerung mit kleinem Vermögen gegenüber der Aktie und der Immobilie als Anlageform für Personen mit höherem Geldeigentum benachteiligt werden.”

Da es Staaten mit niedrigen Zinsen gelegen kommt, sich hoch zu verschulden, setzt die EZB mit ihrer Geldpolitik auch noch die falschen Anreize, nämlich sich noch mehr zu verschulden, wie Paul Kirchhof kritisiert. “Wenn wir das Spiel so weiterspielen, dann wird es den stabilen Euro bald nicht mehr geben”, sagte er im WELT-Interview.

Gemischte Reaktionen kommen aus der Politik

Christian Dürr, Finanzexperte und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Bundestag, stimmte dem deutschen Verfassungsrechtler zumindest in einem Punkt zu: “Professor Kirchhof hat recht, wenn er sagt, dass das Thema in die Parlamente gehört.” Abgesehen von verfassungsrechtlichen Fragen belasteten  die immer neuen Schulden nämlich die Steuerzahler, die sie zurückzahlen müssten. Eine Zusammenarbeit mit den sparsamen Vier – Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich – wäre für das Deutschland das Gebot der Stunde.

Ähnlich äußerte sich der Wirtschaftsrat, ein CDU-naher Unternehmerverband: “Die Geldpolitik der EZB riskiert sehenden Auges die Stabilität und Resilienz der europäischen Finanzwirtschaft”, sagte Generalsekretär Wolfgang Steiger. Die EZB-Geldpolitik heize eine Ausgabenpolitik der Mitgliedstaaten mit immer astronomischer anmutenden Summen an, der jeder Vorwand von Corona bis zu Klimarettung nur recht zu sein scheine.

Deutliche Zustimmung erhielt Kichhof von der AfD. Kay Gottschalk, finanzpolitischer Sprecher im Bundestag, erklärte: “Aus meiner Sicht soll hier ein Verfassungsverstoß, nämlich die direkte und indirekte Staatsfinanzierung mittels des nächsten Bruchs, nämlich dem der Negativzinsen verdeckt werden“, sagte er. Letztlich handele es sich um eine Art der Zwangsabgabe, durch die Unternehmen und Kunden “bestraft und enteignet” würden.

Widerspruch erntete der Verfassungsrechtler von den Grünen: Der Finanzpolitikerin Lisa Paus zufolge gibt es kein Grundrecht auf Zinsen: “Artikel 14 kann grundsätzlich nicht gegen eine staatliche Geldpolitik mobilisiert werden, die Inflation oder Negativzinsen – bewusst oder unbewusst – in Kauf nimmt.“ Der Artikel enthalte keine staatliche Wertgarantie des Geldes.