Während Omikron für nie dagewesene Rekordwerte bei den Infektionszahlen – und dementsprechende Überforderung des Meldesystems – sorgt und der Nationalrat in Wien am gestrigen Donnerstag die Impfpflicht in Österreich per 1. Februar 2022 beschlossen hat, sehen unsere Schweizer Nachbarn die Corona-Lage vergleichsweise tiefenentspannt. Wenn es nach den Schwyzern geht, dann könnte der Höhepunkt der Pandemie schon bald überschritten sein. Der Schweizer Bundesrat Alain Berset sieht sein Land vor einem “Wendepunkt zu einer endemischen Lage”, er blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft. Schon bald könnte über Lockerungen entschieden werden.

Experten äußerten sich gegenüber dem “Tagesanzeiger” zu fünf möglichen Szenarien, wie es jetzt ohne neue Lockdowns und mit mehr “Normalität” weitergehen kann.

Szenario 1: "Schlimmes" Corona verschwindet komplett von der Bildfläche

Wenn das erwartete Szenario Bersets – und vieler Experten – eintritt, und die Pandemie in eine Endemie umschlägt, dann resultiert die aktuell rasante Verbreitung von Omikorn für eine weltweite Herdenimmunität. Wäre es möglich, dass das Coronavirus so stark zurückgedrängt wird, dass es komplett verschwindet?

Dass Corona komplett ausstirbt, scheint sehr unwahrscheinlich, doch es könnte und wird zumindest vorübergehend ruhiger werden, meinen Experten gegenüber dem Schweizer “Tagesanzeiger”. Wenn die Immunität abnimmt, werden Reininfektionen wieder möglich – allerdings dürften die milder verlaufen. Dann könnte es spätestens im Herbst zu einer neuen Welle kommen, aber auch das muss kein Grund zur Panik sein: ” Wir sehen das auch bei den herkömmlichen Coronaviren, die bei uns jedes Jahr zirkulieren”, sagt etwa der Immunologe Christian Münz.

Szenario 2: Das Coronavirus hört auf, zu mutieren

Der Erreger eines Virus hat nur eine beschränkte Zahl von Möglichkeiten, sich zu verändern und so ansteckender zu werden oder das Immunsystem zu umgehen. Könnte auch bei Corona dieser Punkt bald erreicht sein. Der deutsche Virologe Christian Drosten vertrat diese Ansicht im letzten Sommer: “Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass Sars-2 gar nicht mehr so viel auf Lager hat als das, was es uns bisher zeigen konnte», sagte er damals dem Onlinemagazin “Republik”. Andere Experten sehen das etwas anders und verweisen auf die saisonalen Coronaviren, an denen man beobachten kann, dass sie sich über die Jahre stetig weiter verändert haben.

Auch Volker Thiel, Corona-Forscher und Professor für Virologie an der Universität Bern, erklärt: “Es sind weiterhin grössere Veränderungen im Vergleich zu bestehenden Varianten denkbar”. Das schließt allerdings weniger gefährliche und weniger infektiöse Varianten nicht aus. Im besten Fall entwickelt sich Corona zwar weiter, aber wird schwächer – während wir immuner werden.

Szenario 3: Corona verliert an Kraft

Es gibt unter Epidemiologen und Medizinern auch noch die Annahme, dass Viren sich tendenziell abschwächen, nachdem sie neu auf Menschen übergesprungen seien.  Die Überlegung dahinter: Ein Erreger hat eigentlich kein Interesse daran, seinem Wirt zu schaden. Es setzen sich die Varianten durch, die sich am besten verbreiten. Das wiederum geschieht, wenn Krankheitsverläufe mild oder sogar asymptomatisch sind.

Das klingt plausibel. “Besonders tödliche Erreger wie das Ebola- oder das Marburgvirus haben deshalb noch keine Pandemien ausgelöst, weil Infizierte schnell sterben”, sagt Virenimmunologe Christian Münz. Das Epstein-Barr-Virus (EBV), mit dem er sich als Forscher vorwiegend befasst, sei hingegen fast schon perfekt angepasst. Der Erreger, der sich wahrscheinlich vor über 40 Millionen Jahren entwickelt hat, hat 95 Prozent der Bevölkerung infiziert und bleibt lebenslang im Körper. “Wenn nicht zusätzliche Risikofaktoren vorhanden sind, löst eine EBV-Infektion keine Symptome aus”, so Münz.

Szenario 4: Corona mutiert weiter

Dass sich neue Mutationen des Coronavirus bilden, scheint unausweichlich. Es stellt sich jedoch die Frage, wie gefährlich die neuen Varianten tatsächlich ausfallen. Neher hält gefährliche Varianten, die noch ansteckender und krankmachender sind, für “wenig wahrscheinlich”.Ausschliessen kann man es allerdings nicht: “Wir werden das im Herbst sehen”, sind sich alle drei Experten einig.

Als entscheidenden “Gamechanger” sehen die Experten hier einstimmig die Grundimmunisierung, die dank der Impfung und der Omikron-Welle sowohl in der Schweiz als auch in Österreich bereits bei einem großen Teil der Bevölkerung vorhanden ist. Weitere, noch ansteckendere Varianten und auch solche, die die Immunität unterlaufen, können zwar nicht ausgeschlossen werden, aber: “Je mehr Menschen immun sind, desto eher werden wir mildere Krankheitsverläufe sehen”, meint Thiel.

Szenario 5: Was, wenn Delta zurück kommt?

In einem Interview mit dem “New England Journal of Medicine” wies Christian Drosten auf die Möglichkeit hin, dass die Delta-Variante wieder zurückkommen könnte, sobald genügend Menschen einen Schutz gegen Omikron aufgebaut haben. Dieses Szenario können auch Schweizer Experten nicht ausschließen. “Delta wird nicht ganz verschwinden und könnte zurückkommen, wenn die Bedingungen passen”, meint Neher gegenüber dem “Tagesanzeiger”.

Die Frage ist, ob eine allfällige Delta-Welle dann gleich nach Omikron kommen würde oder erst Monate später. Erste Labormessungen deuten jedenfalls darauf hin, dass eine Immunreaktion gegen Omikron nach Impfung auch vor Delta schützen dürfte. Das würde bedeuten, dass es erst wieder zu einer Welle kommt, wenn die Immunität wieder abnimmt – mit welcher Variante auch immer. Ohne Impfung oder vorherige Infektion scheint Omikron allerdings weniger gut vor anderen Varianten zu schützen.