Die Nachfrage nach Prognosen wächst, doch die sind nicht immer verlässlich. Auch Experten raten oft, schließlich lassen sich menschliche Handlungen oder die Wendungen des Corona-Virus nur bedingt vorhersagen. Doch es ist sinnvoll, die Prognosen wichtiger Akteure zu beachten, denn erstens stützen sich diese auf Fachwissen und Erfahrungen, und sind deshalb zumindest informativ. Zweitens bestimmen die Prognosen einflussreicher Personen und Unternehmen auch ihre Entscheidungen. Zuweilen lösen sie sogar Stimmungen und weitere Handlungen aus, und werden am Ende zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung.

Die Wirtschaft wird wachsen

Die Online-Plattform Visual Capitalist hat Hunderte von Berichten, Interviews und Artikeln durchforstet und jene Prognosen herausgesucht, die generell die größte Zustimmung finden. Am Ende hat sie die wichtigsten Vorhersagen in sechs Haupttrends zusammengefasst. Immerhin: Die allgemeine Stimmung ist vorsichtig optimistisch.

So wird etwa die Weltwirtschaft wohl weiter wachsen, aber nicht mehr so schnell wie 2021. 40 Prognosen aus Quellen wie dem IWF und Goldman Sachs ergeben folgende Schätzungen für die Welt und ausgewählte Regionen mit Blick auf das Wachstum des Brutto-Inlandsprodukts (BIP):

1. Geopolitische Spannungen werden aufflammen

Eine ganze Reihe potenzieller Krisenherde prägen das Geschehen auf der ganzen Welt, und das ist auch ökonomisch relevant. Einige davon wollen die Experten im Jahr 2022 im Auge behalten:

Iran: Die Spannungen zwischen den USA und dem Iran haben sich nach einem Angriff auf eine US-Militärbasis im Süden Syriens im Herbst 2021 verschärft. Auch die Spannungen zwischen dem Iran und Israel könnten 2022 weiter eskalieren und andere Länder in der Region in einen Konflikt verwickeln.

Putin und Biden: Der Ukraine-Konflikt wird weiterhin weltweite Aufmerksamkeit auf sich ziehen.APA/AFP/Angela WEISS and Alexey DRUZHININ

Ukraine: Hier rechnet man mit einer Fortsetzung der Spannungen, die nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 aufgeflammt sind. Aufgrund der Abhängigkeit Europas vom russischen Gas und der Position der Ukraine als wichtiger Gastransitknotenpunkt wird diese Situation von Experten besonders genau beobachtet.

Taiwan: Das Risiko, dass China einen Schritt auf Taiwan zumacht und den Druck erhöht, ist in den Augen von Experten gestiegen, auch wenn die bisherigen Aktionen mehr ein “Keifen” als ein “Beißen” sein dürften.

2. China erlebt einen holprigen Start in das Jahr 2022

Zu Beginn des Jahres 2021 waren viele der Vorhersagen zu China weitgehend optimistisch, da das Land früher als der Rest der Welt in eine Erholungsphase eingetreten war. Im Jahr 2022 sind die Vorhersagen das genaue Gegenteil davon, denn China ist an mehreren Fronten mit schweren Herausforderungen konfrontiert.

Zunächst einmal herrscht Pessimismus in Bezug auf Chinas Null-Covid-Strategie, bei der schon heute ganze Städte unter strenge Abriegelungsmaßnahmen fallen. Diese Strategie hat unvermeidliche wirtschaftliche Auswirkungen.

Chinas Präsident Xi Jinping startet in ein schwieriges Jahr 2022.APA/AFP/Noel Celis

Zweitens haben die Ungewissheit in Bezug auf Energieknappheit, eine potenzielle Wohnungskrise und das harte Durchgreifen der Behörden die Begeisterung für die kurzfristigen Aussichten des Landes gedämpft.

Schließlich hat Xi Jinping 2018 die Amtszeitbeschränkungen für die Präsidentschaft aufgehoben und sich damit möglicherweise für eine unbegrenzte Zeit an der Spitze Chinas positioniert. Da sich der 20. Nationale Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Laufe des Jahres nähert, könnte es zu einer angespannten politischen Atmosphäre in Peking kommen, wenn das Land weiterhin auf unsicheren Beinen steht.

3. Das Jahr des Arbeiters: Verschiebung der Arbeitsdynamik

Seit die Pandemie die Arbeitswelt auf den Kopf gestellt hat, steht die Arbeitsdynamik im Mittelpunkt des Interesses. Es gibt eine Reihe von Trends, die sich aus diesem breiteren Thema ergeben:

Der Arbeitskräftemangel, der während der Pandemie aufgetreten ist, wird auch 2022 und darüber hinaus bestehen bleiben. Bestimmte Sektoren, wie die Cybersicherheit, sind mit einem akuten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften konfrontiert.

Cybersecurity-Experten sind heiß begehrt.Getty

Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Zukunft der Büroarbeit “hybrid” ist. Unternehmen, die keine Flexibilität bieten, werden bei der Anwerbung von Talenten im Nachteil sein.

Das Internet und die sozialen Medien haben dem Einzelnen eine Reihe von Karrierewegen eröffnet, um ein Einkommen zu erzielen, das über die Arbeit in einem Unternehmen hinausgeht.

Work-Life-Balance und Burnout werden zentrale Themen in Diskussionen über die Arbeitsplatzkultur sein.

4. Digitales Ökosystem im Wandel: "Creator Economy" wird florieren

Wenn die Vorhersagen stimmen, werden wir noch viel über NFTs (“Non Fungible Token”) und Web3 hören. Es gibt viele Meinungen zu NFTs, und die Bandbreite reicht von überschwänglich bis hin zur völligen Ablehnung. Ob der Hype um die Profilbild-NFTs abebbt, kann man nur vermuten, aber die Technologie hat Künstlern und Kreativen die Tür zu vielen Experimenten geöffnet. Bei NFTs handelt sich um ein nicht ersetzbares digital geschütztes Objekt. Technisch beruht das Konzept auf einer hinterlegten Zeichenkette, die nicht austauschbar oder kopierbar ist. Mit ihnen können digitale Dateien oder Sammelkarten, Musik, Memes oder computergenerierte Kunstwerke gekennzeichnet werden.

Generell sind die Experten von den Aussichten der aufkeimenden “Creator Economy” begeistert – ein Sammelbegriff, der das neue technologische Ökosystem und die wachsende Infrastruktur beschreibt, die es den einzelnen Urhebern von Inhalten ermöglicht, Geld zu verdienen und zu florieren. Die “Creator Economy” ist eine softwaregestützte Wirtschaft, die es den Schöpfern ermöglicht, online Einnahmen aus ihren Kreationen zu erzielen, etwa über Softwareplattformen wie Substack, Lightricks, YouTube, Instagram, TikTok und Patreon.

Die Kryptobranche dürfte eine zunehmend zentrale Rolle in der Wirtschaft spielen.Getty

Ein weiterer Trend, der an Fahrt aufnimmt, ist der E-Commerce rund um soziale Medien. Die Möglichkeit, Produkte direkt von Influencern zu kaufen, wird auf den großen sozialen Plattformen immer häufiger genutzt, und E-Commerce-Unternehmen entwickeln immer mehr Produkte, um Influencer bei ihren Marketingbemühungen zu unterstützen. Bis 2026 wird die Mehrzahl der Millennial- und Generation-Z-Konsumenten Einkäufe auf sozialen Plattformen gegenüber traditionellen digitalen Handelsplattformen bevorzugen, vermuten einige Experten.

5. Inflation geht langsam zurück (zumindest in den USA)

Seit den 1980er Jahren hat es in den USA und Westeuropa keine dramatischen Inflationsraten mehr gegeben. Das änderte sich im vergangenen Jahr. Nachdem Billionen in pandemische Konjunkturprogramme und Krediten gepumpt wurden, war die Inflation plötzlich wieder auf dem Radar – und sie war nicht “vorübergehend”, wie die Zentralbanken gehofft hatten. Im Jahr 2022 rechnen die Experten mit einer weiterhin überdurchschnittlich hohen Inflation, doch soll sie im Vergleich zu 2021 wieder abflachen, da die Störungen in der Lieferkette behoben werden.

Das entspricht auch in etwa der Einschätzung der Europäischen Zentralbank (EZB), doch hier sind zumindest für den Euro-Raum Zweifel angebracht. So rechnen alle Experten mit einer Straffung der ultralockeren Geldpolitik der Zentralbanken, aber speziell bei der Anhebung des Leitzinses dürfte sich die EZB am längsten Zeit lassen und womöglich erst Ende 2024 damit beginnen. Der Grund: Hochverschuldete Staaten wie Italien und auch Frankreich würden sich mit einem erhöhten Leitzins sehr schwer tun.

6. Ein weiteres Spitzenjahr für Elektrofahrzeuge

Da der Klimawandel im Jahr 2022 stärker in den Mittelpunkt des Interesses gerückt ist, werden die Automobilhersteller gezwungen sein, über die Zukunft ihrer mit fossilen Brennstoffen betriebenen Modelle nachzudenken. Selbst wenn die Anreize in einer Reihe von Märkten langsam zurückgenommen werden, wird erwartet, dass die Verkäufe von Elektrofahrzeugen in diesem Jahr neue Rekorde erreichen werden. Auch die Elektrifizierung von Fuhrparks wird ein Trend sein, der an Dynamik gewinnt.

Industrie- und Batteriemetalle wie Lithium und Kobalt sind 2021 um 477 Prozent bzw. 208 Prozent gestiegen – ein Trend, der sich nach Ansicht vieler Experten bis 2022 fortsetzen wird.

E-Autos weiterhin auf dem VormarschGetty

Die wichtigsten Quellen

Von den Hunderten von Quellen, die das Team von Visual Capital durchgesehen hat, stechen besonders die folgenden als sehr umfassend hervor:

Bloomberg’s Outlook 2022: Über 500 Prognosen von Wall-Street-Banken und Investmentfirmen sind in einem Artikel zusammengefasst.
Die Vorhersagen 2022 des All-In Podcasts: Dieser lebhafte Podcast mit Chamath Palihapitiya, Jason Calacanis, David Sacks und David Friedberg ist immer unterhaltsam und informativ. In dieser Vorhersage-Episode geht es um die größten Gewinner und Verlierer in der Geschäftswelt und um die beste Wertentwicklung.
Eurasia Group’s Top Risks for 2022: Diese umfassende Gruppe von Artikeln deckt eine Vielzahl von Themen ab und bietet einige sehr glaubwürdige Vorhersagen darüber, was in diesem Jahr auf der Weltbühne passieren könnte.
Wood Mackenzie’s Predictions for 2022: Die Analysten von Wood Mackenzie geben zehn Prognosen für die wichtigsten Entwicklungen in der Energie- und Rohstoffbranche im Jahr 2022 ab.

Denken Sie, 2022 wird ein gutes Jahr?