Mit einer überraschend scharfen Kritik an den EU-Sanktionen lässt der irische Wirtschaftsexperte Philip Pilkington aufhorchen. Auf der Meinungs-Website „UnHeard“ prophezeit er: „Die Geschichte wird die große europäische Energiekrise von 2022-23 sicherlich als eines der seltsamsten historischen Phänomene in Erinnerung behalten. Die Europäer haben ihre Volkswirtschaften freiwillig zerstört, um Russland Sanktionen aufzuerlegen, die keine wirklichen Auswirkungen auf ihr Ziel haben.“ Mit dem Einsetzen der Winterkälte wäre man gut beraten, den Kurs zu ändern.

Philip Pilkington sieht in dem Ölpreis-Deckel primär einen Schuss der EU ins eigene Knie.

Anlass für Pilkingtons jüngste Schelte ist der von der EU eben beschlossene Ölpreisdeckel. Dieser werde nicht funktionieren, meint er im Gegensatz zu seinem deutschen Kollegen Marcel Fratzscher. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht in dem Preisdeckel ein „Experiment mit guten Chancen auf Erfolg“.

Abseits des Westens beteiligt sich bisher niemand am Ölpreis-Deckel

Die Idee des EU-Plans: Alle europäischen Länder weigern sich, mehr als den von ihnen festgelegten Preis für russisches Öl zu zahlen – und der beträgt 60 US-Dollar pro Barrel. Westliche Versicherungsgesellschaften dürfen demnach nicht mehr Tanker mit russischem Öl versichern, sofern sie dieses Öl für mehr als 60 Dollar verkaufen.

Die Reaktionen auf diesen Vorstoß fallen unterschiedlich aus. Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist diese Preisobergrenze immer noch zu großzügig, sie müsste tiefer angesetzt werden. In Ländern außerhalb der westlichen Welt gedenkt hingegen zurzeit niemand, sich der Preisobergrenze anzuschließen. Wenig überraschend fiel die Antwort Russlands aus: Man werde künftig kein Öl an Kunden verkaufen, die verlangen, unter dem Marktpreis zu zahlen.

Marktpreis für russisches Öl wird nur selten so niedrig sein

Das Problem nach Ansicht von Pilkington: Der Marktpreis für russisches Öl werde nur sehr selten so niedrig sein, wie von den Europäern gewünscht. Europa werde daher das Öl künftig entweder fehlen oder im besten Fall woanders kaufen, und das noch dazu teurer. Das erläutert der Wissenschaftler anhand der Entwicklung des russischen Ölpreises seit 2010.

Der Durchschnittspreis für Russlands Öl lag zwischen 2010 und 2022 bei 75 Dollar – also 15 Dollar über der festgelegten Preisobergrenze von 60 Dollar. Darüber hinaus ist der Ölpreis in der jüngsten Zeit nur nur zwei Mal so niedrig gewesen, und das wegen einmaliger Umstände. Beim ersten Mal – in den Jahren 2014 bis 2015 – steigerten die USA „ihre Schieferölproduktion massiv, und zweitens erhöhten die Saudis ihre Produktion auf einem mit diesem neuen Schieferöl überschwemmten Markt.“ Das zweite Mal fiel der russische Ölpreis während des Lockdowns unter 60 Dollar.

Nur zu 31 Prozent ist der russische Ölpreis während des gesamten Zeitraums unter 60 Dollar gefallen. In den übrigen 69 Prozent lag er darüber. „Ausgehend von diesen Wahrscheinlichkeiten scheint es, dass der Marktpreis in den kommenden Monaten in der Regel über 60 Dollar liegen wird“, sagt der Experte. „Wenn dies geschieht, werden wir verlangen, weniger als den Marktpreis zu zahlen, und Russland wird sich weigern, uns Öl zu verkaufen.“ Die Folgen würden schlimm sein – für Europa, meint der Ökonom.

„Im Falle eines Ölmangels ist mit einer Verknappung von Grundbedarfsgütern zu rechnen“

„Im günstigsten Fall bedeutet dies, dass wir unser Öl woanders einkaufen müssen, wahrscheinlich zu einem wesentlich höheren Preis“, bemerkt Philip Pilkington, nicht ganz ohne Sarkasmus. „Im schlimmsten Fall werden wir unter einer ernsthaften Ölknappheit leiden, da wir nicht in der Lage sind, die russischen Lieferausfälle zu kompensieren. Das bedeutet einen noch stärkeren Inflationsdruck und ein noch größeres Potenzial für Engpässe. Die meisten unserer Lieferketten sind zum Beispiel auf Dieselkraftstoff angewiesen, um zu funktionieren. Im Falle eines Ölmangels ist damit zu rechnen, dass sich dies in einer Verknappung von Grundbedarfsgütern in Ihrem Geschäft niederschlägt.“

Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher teilt Pilkingtons Bedenken nicht.

„Im Falle eines Ölmangels ist mit einer Verknappung von Grundbedarfsgütern zu rechnen“

Wesentlich optimistischer sehen das einige Wirtschaftsexperten in Deutschland. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Fratzscher kommentiert etwa: „Der Ölpreis ist in den vergangenen Monaten gesunken und auch trotz dieser Androhung nicht merklich gestiegen. Somit dürfte der Preisdeckel für russisches Öl sich als erfolgreiches Instrument erweisen, globale Preise zu stabilisieren.“ Zwar habe Russland angekündigt, den seit Wochenbeginn geltenden Preisdeckel von 60 Dollar nicht zu akzeptieren, aber die meisten Marktakteure würden diese Drohung nicht für realistisch halten.

Denken Sie der Ölpreis-Deckel des Westens wird ein Erfolg?