Der Arbeitskräftemangel habe sich jetzt scheinbar überraschend in diesem Ausmaß eingestellt, “weil der Aufschwung im ersten Halbjahr so enorm war, wie wir ihn schon lange nicht mehr erlebt haben. Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, wäre die Konjunktur wahrscheinlich durch die Decke gegangen”, sagte Kocher. Der Arbeitskräftemangel habe sich dadurch verstärkt, weil die geburtenstarken Jahrgänge in Pension gehen und schwächere Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt kommen, “das wird die nächsten zehn Jahre so sein”. Darauf müsse man auf vielen Ebenen reagieren.

Wettbewerbsfähigkeit Österreichs nicht in Gefahr

“Da geht es um bessere Qualifizierung, da geht es um die richtigen Anreize rasch in Beschäftigung zu kommen, wenn man arbeitslos geworden ist, da geht es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kinderbetreuung vor allem, da geht es um Ältere und Gesundheitsvorsorge, um Zuzug aus der Europäischen Union und darüber hinaus, mit der Rot-Weiß-Rot-Karte zum Beispiel.”

Nie zuvor habe es so einen Rückgang der Konjunktur gegeben, ohne dass man am Arbeitsmarkt große Effekte gesehen habe. “Das ist natürlich auch darauf zurückzuführen, dass Unternehmen wissen: Wenn sie jetzt Mitarbeiter kündigen, haben sie beim nächsten Aufschwung, der sicher – und hoffentlich bald – kommen wird, Schwierigkeiten Mitarbeiter zu finden.”

Die hohen Lohnabschlüsse in diesem Jahr infolge der Inflation werden nach Ansicht Kochers die Wettbewerbsfähigkeit österreichischer Unternehmen nicht gefährden. Der Großteil der österreichischen Exporte gehe in die Europäische Union, wo die Inflation ähnlich sei wie in Österreich. “Wir verschlechtern uns da nicht substanziell. Gegenüber dem Rest der Welt haben wir vielleicht ein Problem, das ist richtig. Da ist es sicher schwieriger geworden, weil dort auch die Energiekosten nicht gestiegen sind.”

Bald fehlen 70.000 Pflegekräfte

Allerdings würden durch die hohen Lohnabschlüsse auch die Kosten etwa im Dienstleistungsbereich steigen. “Andererseits ist auch klar, dass ein Abgelten des Kaufkraftverlustes durch die Inflation durch höhere Reallöhne oder höhere nominelle Löhne auch dazu führt, dass die Kaufkraft erhalten wird und damit auch der private Konsum stabilisiert wird.” Die Sozialpartner hätten eine “kluge Balance gehalten zwischen dem Abwenden dieses Kaufkraftverlustes und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmer im europäischen Vergleich”.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und damit der Wohlstand sei in den letzten 20 Jahren gewachsen, allerdings nicht in jedem Jahr, “weil manche Jahre eine relativ starke Bevölkerungsausweitung gezeigt haben aufgrund vor allem der Asylströme”. Der Anstieg der Beschäftigten sei jedoch stärker als jener der Bevölkerung, sagte Kocher. “Im Vergleich zum November 2019 haben wir jetzt ungefähr 130.000 Menschen mehr in Österreich unselbstständig beschäftigt.” Das seien zwar keine Vollzeitäquivalente, aber der Anstieg der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sei bei weitem nicht so groß gewesen.

Bis Ende des Jahrzehnts werden laut Kocher in Österreich rund 70.000 Pflegekräfte fehlen. Dieser Bereich werde einer der Schwerpunkte des kommenden Jahres sein. “Wir werden im nächsten Jahr die Voraussetzungen schaffen für ein Pilotprojekt zur Pflegelehre, das werden einige Bundesländer aufgreifen. Das heißt, man wird dann eine drei- oder vierjährige Lehrausbildung zur Pflege-Fachassistenz machen können.” Außerdem starte mit 1. Jänner 2023 ein Pflegestipendium. “Für alle, die aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Umschulung in Richtung Pflege machen, gibt es einen garantierten Mindestsatz von 1.400 Euro, den man in der Arbeitslosigkeit bekommt.”