In der erste Bundestagssitzung in der neuen Zeit nach dem Frieden in Europa hält Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine Rede, die eine historische Kehrtwende in der deutschen Sicherheitspolitik markiert. Die deutsche Zurückhaltung ist zu Ende – vor allem die militärische. Das Dogma, dass deutsche Außenpolitik sich vor allem um die Diplomatie kümmert und andere mit einer weniger belasteten Geschichte für das Militärische zuständig sind, gibt es nicht mehr.

Scholz: "Wir haben eine klare Antwort gegeben"

“Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents”, sagt Scholz über das Datum des Kriegsbeginns. “Am Donnerstag hat Präsident Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Realität geschaffen. Diese neue Realität erfordert eine klare Antwort. Wir haben sie gegeben.”

Für die Bundeswehr legt die Regierung ein Aufrüstungsprogramm von historischem Ausmaß auf: Ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll für Investitionen in die Truppe und ihre Ausrüstung gebildet werden. Der Verteidigungsetat soll von nun an jedes Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Gegen dieses Zwei-Prozent-Ziel der NATO haben sich SPD und Grüne lange Zeit gesträubt. Jetzt wird es im Handstreich beschlossen.

Großes Lob aus USA: "Das ist enorm, historisch"

Großes Lob erntet Deutschland dafür vom US-Sicherheits- und Verteidigungsexperten Elbridge Colby: “Das ist enorm, historisch”, unterstreicht er auf Twitter. “Wenn Deutschland dies durchzieht und ein ernsthaftes Militär zur kollektiven Verteidigung aufbaut, wird Europa viel sicherer und die Welt ein viel besserer Ort sein. Bravo!!!”

Colby zitierte auch den Philosophen Thomas Hobbes: “Die Leidenschaft, mit der man rechnen muss, ist die Angst.” So sei es auch hier: “Die Angst, die Moskau in Europa rücksichtslos geschürt hat, ist eine weitaus verlässlichere Grundlage für größere Anstrengungen zur europäischen Selbstverteidigung als alles, was Amerika sagen oder tun könnte.”

Elbridge Colby ist Mitbegründer und Leiter der Marathon-Initiative, einer politischen Initiative, die sich auf die Entwicklung von Strategien konzentriert, um die USA auf eine Ära des anhaltenden Großmachtwettbewerbs vorzubereiten. Zuvor war Colby von 2018 bis 2019 Direktor des Verteidigungsprogramms am Center for a New American Security. Von 2017 und 2018 war er in der US-Regierung für Strategie und Streitkräfteentwicklung zuständig.

Unions-Vorsitzender Friedrich Merz bei der außerordentlichen Sitzung des BundestagesAPA/AFP/Odd ANDERSEN

Friedrich Merz (CDU) unterstützt die Neuausrichtung

Darüber hinaus liefert Deutschland tödliche Waffen in einen laufenden Krieg – 1000 Panzerfäuste und 500 Luftabwehrwaffen vom Typ “Stinger”. Darüber hinaus wird den NATO-Partnern Niederlande und Finnland die Lieferung von Waffen erlaubt, die ursprünglich aus Deutschland stammen. Die Bundesregierung hatte die Forderung der Ukraine nach Waffen monatelang abgeblockt unter Verweis auf die strengen deutschen Rüstungsexportrichtlinien, die Waffenlieferungen in Krisengebiete untersagen.

Lob erntet Scholz von Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU): “Eine gute Regierungserklärung”, sagt er. Für Grüne und SPD ist das Ja zu den Waffenlieferungen und der Aufrüstung der Bundeswehr keines aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit. Vizekanzler Robert Habeck erklärt dazu: “Wer einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, der macht sich schuldig daran.” Der Grünen-Politiker hatte sich schon bei einem Ukraine-Besuch im Wahlkampf für Waffenlieferungen ausgesprochen und musste dafür viel Prügel einstecken. Er verbirgt aber auch nicht, dass bei ihm Zweifel an der Entscheidung bleiben. “Sie ist richtig, aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner. Denn wer weiß, wie sich der Krieg entwickelt.”

Minutenlanger Applaus für ukrainischen Botschafter

All das hört sich auf der Besuchertribüne der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk an. Drei Monate lang – seit Beginn des russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze – ist er unermüdlich durch die deutschen Talkshows gezogen und hat in ungewöhnlich scharfer Tonlage von der Bundesregierung Waffen für die Verteidigung seines Landes eingefordert. “Ich kann nicht verstehen: Wie kann man so kaltherzig und stur bleiben”, hatte er sich noch am Tag des Kriegsbeginns über Deutschland beklagt.

Am Sonntag wird er im Bundestag minutenlang mit Applaus begrüßt. Für ihn ist es eine späte Genugtuung. “Ich habe meinen deutschen Freunden und der Bundesregierung immer gesagt, dass sie die schrecklichen Bilder vom Krieg in der Ukraine nicht lange ertragen werden, ohne zu reagieren und umzusteuern”, sagt er.