
Tuvia Tenenbom: „Unter ultraorthodoxen Juden fühlte ich mich plötzlich freier“
Es gibt keine Gender-Vorschriften zu beachten, und man kann offen über die Schönheit von Frauen schwärmen: Inmitten ultraorthodoxer Juden lebt es sich freizügiger als in Manhatten. Das stellte schockiert der israelisch-amerikanische Schriftsteller Tenenbom fest, als er sich ein Jahr lang in Israels ultraorthodoxe Gemeinschaft hineinwagte.

Sie gelten als eine der verschlossensten Gemeinschaften überhaupt. Manchmal sorgen sie für Schlagzeilen, etwa während der Corona-Pandemie. Damals warfen ultraorthodoxe Juden mit Steinen auf isarelische Polizisten, die sie – vergeblich – zur Einhaltung strenger Corona-Maßnahmen zwingen wollten. Die Bilder wanderten erst durch Social-Media-Kanäle, dann durch die Weltpresse. Inmitten von Israels Lockdowns widersetzten sich ultraorthodoxe Viertel beharrlich den meisten Einschränkungen. Hier wurden weiterhin religiösen Feste und Hochzeiten gefeiert. Ultraorthodoxe Juden zu Tausenden an Begräbnissen teil, und dachten nicht im Traum daran, das wegen Corona zu unterlassen.
Der israelisch-amerikanischer Schriftsteller, Regisseur und Theaterleiter Tuvia Tenenbom wollte in die für viele verborgene Welt der ultraorthodoxen Juden eintauchen und über sie schreiben. „Für mich stand fest: Wenn ich ein Buch über sie verfasse, werde ich in ihrer Gemeinschaft sein und mit ihnen leben“, sagt er zum eXXpress. So ist Tenenbaum auch bisher beim Verfassen seiner Bücher vorgegangen, ob in „Allein unter Deutschen“, „Allein unter Amerikanern“, „Allein unter Flüchtlingen“ oder bei seiner Erkundung Israels: „Allein unter Juden“. Der Essayist kommentiert: „Man kann auch kein Buch über Palästinenser schreiben, wenn man nicht Arabisch spricht. Man kann kein Buch über Deutsche schreiben, wenn man nicht mit ihnen zusammenlebt.“

„In Mea Schearim gibt es das authentischste ultraorthodoxe Judentum“
Tenenbom begab sich für diese Entdeckungsreise gemeinsam mit seiner Frau mitten ins Herz des ultraorthodoxen Judentums, in das Jerusalemer Stadtviertel Mea Schearim, das fast ausschließlich von ultraorthodoxen Juden bewohnt wird. „Hier gibt es das authentischste ultraorthodoxe Judentum überhaupt auf dieser Welt.“ Ironische Ergänzung: „Vielleicht kann man im Paradies noch mehr davon bekommen, aber nicht hier auf Erden.“
Für Tuvia Tenenbom war es gleichzeitig eine Reise in seine Kindheit. Der Essayist und Dramatiker ist in Mea Schearim aufgewachsen und stammt aus einer ultraorthodoxen Familie. 1981 übersiedelte er nach New York. „Damals war ich noch orthodox-chassidisch. Ich lebte in Williamsburg in Brooklyn (wo bis heute vor allem ultraorthodoxe chassidische Juden leben, Anmerkung).“ Doch dann verließ er das religiöse Judentum, als einziges der drei Kinder seiner Eltern. Später, 1994, gründete er das „Jewish Theater of New York”.

Freunde warnten: „Sie werden mit Steinen nach dir werfen“
Vor Beginn seiner Erkundungsreise warnten selbst religiöse Menschen Tenenbom: „Wage es nicht, dorthin zu gehen. Schon am ersten Abend werden die Leute vor deinem Fenster stehen und schreien: ‚Ungläubige raus!‘, und sie werden Steine nach dir werfen.“ Tenenbom dachte sich: „Wenn sie das machen sollten, würde mir das nicht gefallen, aber ich bin Journalist, ich bin Schriftsteller“, wie er dem eXXpress berichtet. „Da muss man eben alles aufschreiben, was einem widerfährt. Also schreibe ich dann, dass an jedem Abend Steine auf mich geworfen werden. Es wird interessant.“

Tenenbaum brachte immerhin etwas Vorwissen mit: „Das ultraorthodoxe Judentum ist immer noch ein Teil von mir: Ich weiß noch manches, habe immerhin in Rabbinerseminaren studiert.“ Er stammt aus einer deutschjüdisch-polnischen Familie. Bereits Tenenbaums Urgroßvater war Rabbiner – „einer der größten Rabbiner in Polen“ – und ebenso sein Großvater. Fast keiner seiner polnischen Verwandten überlebte den Holocaust.
Die Schattenseite dieser Vorgeschichte: „Für ultraorthodoxe Juden sind diejenigen, die sie verlassen haben, die schlimmsten. Ich wusste also nicht, ob es funktionieren wird.“

Tenenbom wurde aufgenommen – weil er Jiddisch sprach
Doch es kam anders: „Aber ich ankam, warf niemand mit Steinen nach mir. Überraschenderweise wurde ich sehr gut aufgenommen. Komischerweise kannten fast alle meine bisherigen Bücher und konnten sogar Zeilen aus ihnen zitieren. Ich hatte zunächst gedacht, ich müsste mich vielleicht als Deutscher ausgeben, der für eine deutsche Zeitung schreibt. Aber nein, vom ersten Tag an fragten sie mich: Schreibst du nun über diesen Ort?“

Was Tuvia Tenenbom half: Er sprach Jiddisch. „Ich habe das Deutsche und das Jiddische kombiniert. Für sie war es wie das echte Jiddisch, das Jiddisch der Russen. Wenn man auf Jiddisch mit ihnen spricht, ist das eine andere Welt. Ich fragte einen der ultraorthodoxen Juden: ‚Wie kommt es, dass mich die Leute hier aufgenommen haben? Ich verhalte mich nicht wie sie. Dabei ist das hier eine sehr enge Gemeinschaft. Dennoch akzeptieren sie mich.‘ Er entgegnete: ‚Wenn du mit uns auf Jiddisch sprichst, redest nicht du mit uns, sondern dein Opa redet mit unseren Großvätern.‘“
Sogar ein paar Rabbiner, die ansonsten nie mit Medien sprechen, gaben Tenenbom für sein Buch Interviews. „Es war erstaunlich. Sie waren mir gegenüber offen.“ Tenenbom nannte sein Buch: „Gott spricht Jiddisch“.
Das ultraorthodoxe Judentum hat sich „enorm“ verändert
Entstanden ist am Ende kein „Propaganda-Buch“, wie Tuvia Tenenbom sagt. Er äußerte auch Kritik an den ultraorthodoxen Gemeinschaften. Aber er räumt ein: „Ich finde die Communities großartig. Es gibt einen erstaunlichen Sinn für Humor. Ich ging die meiste Zeit lachend durch die Straßen – außer am Schabbat: Da sind die Straßen gesperrt. Ich musste überdies eine Jarmulke (Kippa) aufsetzen. Aber das war es schon.“
Tenenbom war selbst überrascht über seine positiven Erfahrungen. Als junger Mann hatte er das ultraorthodoxe Judentum als zu restriktiv empfunden. Doch sei seinem Austritt sind mehrere Jahrzehnte vergangen und es hat sich seither verändert, und zwar „enorm“, wie der Autor mit Nachdruck festhält. Tuvia Tenenbom erinnert sich: „Als ich dem ultraorthodoxen Judentum noch angehörte, hätte sich niemand getraut, Bücher wie jene, die ich geschrieben habe, zu lesen. Wir lasen nur religiöse Schriften. Doch heute lesen sie nicht nur andere Bücher, sie geben es auch offen zu und können Zeilen daraus zitieren. So etwas hat es in meiner Kindheit nie gegeben.“

Plötzlich sind Gespräche über Schönheit der Frauen kein Problem
Noch etwas anderes war bemerkenswert: „Wir leben heute in einer Welt, die sehr fortschrittlich ist. Meine Wohnung befindet sich in der Upper East Side von Manhattan, hier ist der ‚Höhepunkt‘ des liberalen Denken, hier sind die Liberalsten unter den Liberalen. Aber in der fortschrittlichen Welt muss man aufpassen, ob man sich auf das richtige Geschlecht eines Menschen bezieht. Ich darf eine Frau nicht unterhalb ihres Kinns ansehen, ansonsten gelte ich als potenzieller Vergewaltiger. Ich darf einer Frau auch nicht sagen, dass sie schön aussieht. Ich darf einem Mann nicht sagen, dass seine Tochter schön ist. Ich darf all das nicht sagen.“

Was für ein Kontrast zu seinen Erfahrungen bei der ultraorthodoxen chassidischen Gemeinde. „Ich sagte zu einem Chassid: ‚Wissen Sie, seit ich hier bin, kann ich nicht aufhören, die Frauen eurer Gemeinde anzuschauen. Sie sind so schön, so wunderschön.‘ Ich dachte, er würde mich dafür umbringen. Doch seine Antwort war: ‚Nach dem Holocaust war Gott sehr gnädig. Deshalb sind alle unsere Frauen so schön.‘ Unter den Konservativen fühlt sich das Leben in gewisser Hinsicht liberaler an.“


„Die ‚liberale‘ Gesellschaft drängt einem ihre Ansichten auf“
Es war eine für Tenenbom in gewisser Hinsicht schockierende Erfahrung: „Plötzlich fühlte ich mich viel freier. Wir leben in einer Zeit, die mittlerweile sehr diktatorisch ist. Die ‚liberale‘ Gesellschaft drängt einem ihre Ansichten auf. Die Liberalsten wurden im Grunde diktatorisch. Man muss dauern auf Transgender Rücksicht nehmen, sogar beim Toilettengang. Man darf sich über nichts lustig machen. Und natürlich darf man niemandem ins Gesicht schauen. Gott bewahre, dass man eine unbekannte Person berührt. Natürlich gehe ich nicht herum und berühre Frauen. Worum es mir aber geht: Ich konnte unter den ultraorthodoxen Juden freier sagen, was ich will. Das habe ich herausgefunden.“

Im Rahmen seiner Entdeckungsreise erlebte Tuvia Tenenbom noch eine Corona-Welle. „Damals erklärte die Regierung, dass sich in geschlossenen Räumen, auch nicht in Synagogen, mehr als zehn Personen aufhalten dürfen. Jeder musste Abstand halten und eine Maske tragen. Als ich in eine Synagoge ankam, standen dort tausende Menschen Seite an Seite, sie sangen und tanzten. Niemand trug eine Maske. Ihnen bedeuteten die Corona-Regeln nichts. Natürlich starben deshalb auch mehr Menschen.“
Staatskritische Haltung aus Osteuropa und Russland lebt weiter
Im ultraorthodoxen Judentum würden gewisse Gepflogenheiten aus Russland und Osteuropa weiterleben, meint Tenenbom. Das sei mit ein Grund für die ablehnende Haltung zu den Corona-Maßnahmen gewesen: „In Moskau habe ich während Corona etwas ganz Ähnliches erlebt“, berichtet er. „Bevor man in die Züge einstieg, musste man an der Polizei vorbeigehen. Ohne Maske durfte man nicht zur U-Bahn. Die Polizisten bildeten eine Barriere. Die Leute setzten also eine Maske auf – und nahmen sie später wieder ab, sobald sie die Barriere hinter sich gelassen hatten und in die Züge einstiegen.“
Tuvia Tenenboms Beobachtung: „Die Charedim (ultraorthodoxen Juden) tun dasselbe. Sie kommen aus Osteuropa, aus Russland, Ungarn, Polen, aus Kulturen, die der Regierung nicht vertrauen.“ Bis zu einem gewissen Grad bestünde überdies eine Art Fatalismus. „Alles liegt in Gottes Händen. Wenn er möchte, dass ich weiter lebe, werde ich am Leben bleiben. Wenn er will, dass ich sterbe, werde ich sterben.“ Dieser Fatalismus kombiniert mit Misstrauen gegenüber der Regierung sei charakteristisch.
Das starke Wachstum der ultraorthodoxen Juden in Israel hält Tenenbom nicht für problematisch
Viele Israelis sorgen sich über das rasante Wachstum der ultraorthodoxen Gemeinde. Die dortigen Familien haben besonders viele Kinder, die aber kaum Mathematik in ihren Schulen lernen. Deshalb partizipieren sie nicht an der modernen Gesellschaft, und das in einem Land, das in Cyber und anderen Forschungsbereichen führend ist.

Tuvia Tenenbom hat eine andere Sicht der Dinge. Ihn beunruhigt das nicht: „Meinen ersten Abschluss – ein Bachelor – machte ich in Mathematik. Viele Kollegen um mich herum verstanden nichts davon. Sie merkten sich nur die Formeln. Die Wahrheit ist: Selbst Leute, die an der Universität studiert haben, weisen oft keine oder nur geringe Mathematikkenntnisse vor – mit wenigen Ausnahmen. Ich habe 15 Jahre an der Universität verbracht, habe viele Disziplinen studiert, später auch Literatur. Das bedeutet nicht, dass man wirklich mehr weiß. Das ist Nummer eins. Zweitens: Die meisten Menschen sind nicht sehr schlau. Nummer drei: Die orthodoxen Juden studieren die ersten 20 Jahre ihres Lebens den Talmud. Also sind sie nicht weniger gebildet. Wir sind auch mit ihrer Art des Studiums nicht vertraut.“
Das Talmud-Studium sei in gewisser Hinsicht wie ein Jusstudium. „Das Judentum ist im Unterschied zum Christentum auch ein Rechtssystem. Nichts anderes ist der Talmud. Es gibt somit Menschen, die schon sehr früh Jus studieren und ihr ganzes Leben damit verbringen.“ Dabei gibt es verschiedene Auslegungen. Innerhalb der Orthodoxie bestehen starke Unterschiede, von chassidischer Orthodoxie bis zu Ashkenazi-Orthodoxie. „Ich versuche, so viele wie möglich in meinem Buch abzudecken.“

„Gott spricht Jiddisch“ wurde in religiösen Vierteln binnen einer Woche zum Bestseller
Überdies bringen ultraorthodoxe Juden ihren Kindern von klein auf bei, Bücher zu lesen: „Man sieht kleine Kinder Schlange stehen vor Buchhandlungen. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Teneboms Buch „Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen“ erschien heuer bereits im März auf Hebräisch. „Es wurde sofort ein Bestseller, innerhalb von einer Woche. Normalerweise dauert das ungefähr drei Wochen. Wie haben nachgesehen: Alle Geschäften, von denen die Bücher gekauft wurden, befanden sich in unmittelbarer Nähe ultraorthodoxer Gemeinden. Sie kauften das Buch zu Tausenden.“ Es sei einer Gemeinschaft der Leser. Ultraorthodoxe Kinder nutzen keine sozialen Medien wie Instagram – weil sie nicht dürfen. Es gibt keine Smartphones für Kinder – aber dafür jede Menge Bücher.

Tuvia Tenenbom begegnete sogar Konvertiten
Im Übrigen: „Menschen, die im Leben erfolgreich sind, Geschäftsmänner etwa, sind nicht diejenigen, die sich mit Mathematik auskennen. In der ultraorthodoxen Gemeinschaft gibt es viele Geschäftsleute.“ Auf noch etwas macht Tenenbom aufmerksam: Was es eigentlich bedeutet, so viele Kinder großzuziehen, welche Fähigkeiten dafür erforderlich sind.
Mit Vorhersagen über Israels künftige Bevölkerungszusammensetzung ist Tuvia Tenenbom zurückhaltend. „Vorhersagen sind sehr seltsam, weil die heutigen Koordinaten nicht die Koordinaten sind, die wir in 20 Jahren haben werden.“ Er sieht die Gefahren für Israel woanders, etwa bei den rechtsextremen politischen Kräften. „Diejenigen, die das Land zerstören könnten, sind nicht die orthodoxen Juden, sondern sie.“
Inmitten der Ultraorthodoxie stieß Tenenbom auch auf Konvertiten, auch aus Deutschland. „Wer mehr darüber erfahren will, der muss mein Buch lesen“, bemerkt er lachend. Im November erscheint „Gott sprich Jiddisch“ auf Deutsch.
Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutschjüdisch-polnischen Familie. Er lebt seit 1981 in New York. Er studierte unter anderem englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller Allein unter Deutschen (2012), Allein unter Juden (2014), Allein unter Amerikanern (2016), Allein unter Flüchtlingen (2017) sowie Allein unter Briten (2020).
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