Ein guter Bekannter von mir ist Schauspieler, nicht unbedingt ein Superstar, eher so auf dem Level Nebenrolle im Tatort. Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren, weswegen er mir neulich eine längere Sprachnachricht geschickt hat, um mir von seinem Dilemma zu berichten. Er sei von einem Kollegen am Set angesprochen worden, ob er nicht auch einen offenen Brief unterzeichnen wolle. Viele Autoren und Kollegen seien darauf, auch ein Regisseur. Der Brief thematisiert irgendeinen Aufreger in der Künstlerszene, natürlich im Kern ein identitätspolitisches Geschlechterthema. „Weißt du“, sagte mein Bekannter. „Mir ist das eigentlich komplett egal.“ Trotzdem fühle er sich jetzt genötigt, den Brief zu unterzeichnen, einfach weil eine Weigerung als Ablehnung des Anliegens interpretiert werden könnte und sowas spreche sich in der Branche schnell rum. Mein Bekannter ist kein sonderlich politischer Mensch, doch jetzt bezieht er gezwungenermaßen Position zu einem Thema, das er weder kapiert, noch unterstützt.

Tatsächlich wird von Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, laufend erwartet, dass sie sich solidarisieren und positionieren. Zum Klimaschutz. Zum Gendern. Zum Tempolimit. Zur Buchmesse. Zum Nahost-Konflikt. Zur Corona-Impfung. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Mit dem Ruhm durch das Rampenlicht wird einem gleichzeitig eine immer wiederkehrende Verantwortung auferlegt, öffentlich die „richtige“ Meinung zu vertreten. Wer brav nach den Regeln spielt, gibt dann vielleicht eine versteckte Wahlempfehlung für die Grünen ab, informiert seine Follower, dass zu viel Plastik in den Weltmeeren schwimmt und gendert konsequent jeden Tweet, um ja nicht negativ aufzufallen. Denn sich nicht zu positionieren, ist auf Dauer keine Option mehr. Die Sittenwächter im Netz wachen nämlich mit Argusaugen darüber, nicht nur wie, sondern auch ob sich eine prominente Person öffentlich positioniert. Wer schweigt, macht sich grundsätzlich verdächtig. 

Gleichgültigkeit wird zum Luxus

Also wird billigenden in Kauf genommen, dass irgendwelche Sternchen und Influencer verlegen Regenbogenfahnen oder schwarze Kacheln auf Instagram posten, um nicht negativ aufzufallen, aber insgeheim bei der letzten Wahl zuhause gelblieben sind, weil sie sich für Politik überhaupt nicht interessieren. Es gab eine Zeit, da war das politische noch weitestgehend privat, doch spätestens mit Donald Trump im Weiße Haus, sollte plötzlich jeder eine Meinung haben – im Idealfall eine ablehnende. Wenn man allerdings die Debatten über US-Politik in Österreich und in Deutschland verfolgt, zeigt sich schnell, dass nur die wenigsten eine fundierte Ahnung haben und sich trotzdem als Experten fühlen. Dieser Experteritis samt hysterischer Meinungsmache hat zuletzt auch während der Corona-Pandemie um sich gegriffen. Auf der einen Seite die Leugner, die bisweilen überzeugt sind, dass die Impfung gefährlicher sei als das Virus, auf der anderen Seite die Leugner-Kritiker, die mitunter am liebsten sofort einen Impfzwang ausrufen würden. In der Mitte allerdings befinden sich viele, stummere Menschen, die von dem absoluten Ton der Debatten längst genervt sind, die weder mit der einen noch mit der anderen Position sympathisieren und die generell ausreichend reflektiert sind, so dass sie im Zweifel einem Experten eine fundiertere Meinung zutrauen als sich selbst. Mir persönlich ist es beispielsweise komplett egal, ob sich jemand impfen lässt oder nicht. Ebenso egal wie die Gründe für die jeweilige Entscheidung. 

Ausgestoßen

Diese bequeme Gleichgültigkeit kann ich mir nur erlauben, weil ich mich in keiner exponierten gesellschaftlichen Stellung befinde. Wäre ich ein prominenter Schauspieler, würde ich mich vielleicht, würde man mich fragen, für die Impfung aussprechen, einfach weil ich gesehen habe, wie mit anderen Kollegen umgesprungen worden ist, die sich kritisch zu den Corona-Maßnahmen geäußert haben. Wahrscheinlich würde ich auch sagen, dass ich Trump nie unterstützt hätte und dass es freilich mindestens neun verschiedene Geschlechter gibt. Denn vergleichbar mit der Politik ist man auch in der Unterhaltungsbranche maßgeblich von der gesellschaftlichen Gunst abhängig. Ein falsches Wort, ein falscher Witz, ein falscher Tweet oder eine ausbleibende  oder „falsche“ Solidaritätsgeste kann einen die Karriere kosten, weil die digitalen Sittenwächter einen spätestens beim zweiten Verstoß zur Persona non grata erklären. Nicht wenige haben deswegen Angst, sich überhaupt irgendwie zu positionieren, um niemanden zu verärgern.

Mein Bekannter zum Beispiel ist der Meinung, dass es nur zwei Geschlechter gibt. „Das darf man aber nicht sagen“, fügt er gleich wissend an. Also schweigt er öffentlich. Bis der nächste erwartet, dass er sich positioniert. Da wird er dann vermutlich sagen, dass es natürlich mehr als zwei Geschlechter gibt. Hoch lebe die Meinungsfreiheit!

Anna Dobler ist eine mehrfach ausgezeichnete, ausgebildete und studierte Journalistin und Kolumnistin. Nach beruflichen Stationen in Berlin, München, Italien und Salzburg lebt und arbeitet sie mittlerweile in Wien. Auf Twitter setzt sich @Doblerin ein für freie Märkte und freie Meinung.