Der Mensch, nur krummes Holz und zur Lüge geboren?

Im Hinblick auf die Wahrheit überwiegen in der Geschichte der Philosophie die defätistischen Standpunkte. Manche meinen sogar, dass man die Wahrheit niemals erreichen könne. Der Mensch wäre nur imstande, ihr mehr oder weniger nahezukommen. Pessimistisch ist bei manchen Philosophen das gesamte Menschenbild. So war Kant der Auffassung, dass der Mensch aus krummen Holz gemacht sei, das niemand geradezubiegen vermag. Dementsprechend müsse man immer gewahr sein, von jedem, auch von den Nahestehenden, angelogen zu werden. Die pessimistische Anthropologie Kants legt nahe, niemals zu gutgläubig zu sein. Eine besonders bösartige Form der Lüge stellt das Hyperreale dar. Der Philosoph Baudrillard meint damit eine gefährliche Vermischung von Realem und Illusionärem. Das Hyperreale ist deshalb so toxisch, weil sich in ihm Tatsachen und Erfindungen dermaßen ineinander verstricken, dass sie kaum jemand voneinander zu trennen vermag. Als besonders gefährliche Form von Unwahrheit und Manipulation hat die Punk-Poetin Kathy Acker die Abstraktion ausgemacht. Sie meinte, dass die Lügner unserer Tage die Sprache abstrakt und damit manipulativ machen. Beispiel Regierungsprogramm 2025: „Familiennachzug wird mit sofortiger Wirkung vorübergehend gestoppt. Wird er wieder zugelassen, können Ehepartner erst ab dem 21. Lebensjahr und nicht wie bisher ab 18 nachreisen.“ Wie lange „vorübergehend“ ist, weiß niemand und was die Maßnahme quantitativ bringt, auch nicht. Was hängen bleiben soll ist, dass der Nachzug massiv eingeschränkt werden wird. Das kann sein, muss aber nicht sein. Alles in allem nichts als unkonkretes und deutungsoffenes Geschwätz.

Die primitive Lüge

Dass sich die Politik heute in einer Phase der Primitivierung befindet, wird jedem deutlich, der ab und an Pressekonferenzen der neuen Bundesregierung verfolgt. Zur geschickten und durchtriebenen Lüge scheinen die handelnden Personen der österreichischen Tagespolitik nicht mehr in der Lage zu sein. Der Beweis dafür ist die Budgetlüge. Noch eine Woche vor der letzten Nationalratswahl wurde von den Regierenden behauptet, dass das zu erwartende Budgetdefizit des Jahres 2024 bei 2,9 % liegen würde. Der Vorsitzende des Fiskalrats wies schon damals darauf hin, dass man dieser Behauptung keinesfalls Glauben schenken solle, tatsächlich würde das Defizit deutlich über den Maastrichtkriterien liegen. Nach den Wahlen musste der verantwortliche Finanzminister zugeben, dass das Defizit tatsächlich – wie vom Fiskalrat vorhergesehen – 4,1 % betrug. Den Verdacht, dass es sich hierbei um eine primitive Lüge handelte, um die vorherzusehenden Wahlverluste von ÖVP und Grünen zu minimieren, konnte von den Verantwortlichen bisher nicht wirklich ausgeräumt werden.

Leicht bekleidete Grüße vom Balkon

Auch die Lüge durch Weglassen ist keine gewiefte Form des Schwindels. Was ihre Qualität betrifft, befindet sie sich auf einem ähnlich niedrigen Niveau, wie die primitive Lüge. Zwei Fälle der letzten Wochen sind anschauliche Beispiele. Zuerst die für ungültig erklärte Präsidentenwahl in Rumänien. Im Anschluss daran gab es Massenproteste in Bukarest. Wer nicht darüber berichtete: unsere Medien. Und wenn sie doch berichteten, dann in Form einer unauffälligen Randnotiz. Versteckt wurden die Massenproteste gegen die EU, die als Drahtzieherin der antidemokratischen Aktion vermutet wird, hinter Schlagzeilen wie „Melissa Naschenweng: Leichtbekleidete Grüße vom Balkon.“ Wenn ein Balkonauftritt des Sexsymbols der volkstümlichen Musik eine Spitzenmeldung des Tages ist, dann steckt dahinter immer der Versuch, irgendetwas in den Hintergrund zu verdrängen, das die unzuverlässige Masse keinesfalls wahrnehmen und wissen soll. Auch die Massaker monströser Islamisten an Christen und Alawiten in Syrien waren den politischen Eliten ziemlich unangenehm, überhöhten sie doch die „milden Islamisten“ seit Wochen zu demokratischen Erlösern und überschütteten sie gleichzeitig mit Millionen an Fördergeldern. Zuerst versuchte man noch, die Schuld an den Massakern den Anhängern des gestürzten Präsidenten Assad in die Schuhe zu schieben. Als selbst der bärtige Führer der HTS-Islamisten, er verweigerte einst Annalena Baerbock den Handschlag und ließ sie unbeachtet wie ein Mauerblümchen neben sich sitzen, zugeben musste, dass es sich bei den Schlächtern um durchgedrehte Psychotiker aus den eigenen Reihen handelte, legte der politik-mediale Komplex den Schalter auf offensives Schweigen um. Als auch das nicht mehr zu halten war, wurde „differenziert“ berichtet. Danke an „Die Presse“ und an „Exxpress“, dass sie „filterlos“ über einen Fall muslimischer Christen- und Alawiten-Verfolgung von Anfang an informiert haben.

Friedrich Merz, ein listenreicher konservativer Versucher

Jeder tut, was er kann, um die einfältige Wählerschaft aufs Kreuz zu legen. Friedrich Merz entpuppte sich diesbezüglich als besonders raffinierter Jongleur der Illusionen. Zuerst versprach er die Schließung der Grenzen für „irreguläre“ Asylanten um tags darauf zu behaupten, niemals über Grenzschließungen gesprochen zu haben. Den Höhepunkt der rabulistischen Kunst erreichte er aber mit dem Versuch, als Verteidiger der Schuldenbremse die Aufnahme von „Sondervermögen“ in der Höhe von rund einer Billion Euro im alten abgewählten Bundestag beschließen zu lassen. Hier umarmen sich die Fertigkeiten der schwindelerregenden Abstraktion und der virtuosen Vermischung von Widersprüchen und lassen ein wahres Kunstwerk der Irreführung und Prellerei entstehen. Unverschämter und dreister hat noch keiner versucht, das Wahlvolk zu verarschen. Dagegen sind die Österreicher Brunner und Stocker wahrlich Anfänger. Der deutsche Kommunikationswissenschaftler Rainer Mausfeld meint, dass von der ursprünglichen Demokratie nur die formale Hülle übrig geblieben ist. Sie ist zum inszenierten Spektakel verkommen, das sich auf periodische Wahlen beschränkt, bei denen die Bevölkerung aus einem vorgegebenen Elitespektrum wählen kann. Demokratie ist durch eine Illusion von Demokratie ersetzt worden, deren Wesen banales Meinungs- und Empörungsmanagement ist. Und der mündige Bürger wurde ersetzt durch politisch apathische Konsumenten. Statt Meinungs- und Empörungsmanagement kann man auch schnödes moralbefreites Lügenspektakel sagen, wenn man den aktuellen Untergang der Demokratie in einem Meer von Unwahrheiten volkstümlich kritisch ansprechen will.