Ich bin Pädagogin. Ich arbeite seit über 20 Jahren mit Kindern. Und ich sage: Ja, vielleicht hätte man es verhindern können. Denn die sogenannten „verlorenen Kinder“ sieht man früh. Sehr früh. Noch bevor sie lesen oder schreiben können.

Wir sehen sie täglich. Den Buben, der kaum spricht, aber andere Kinder beißt, wenn ihm etwas zu viel wird. Das Mädchen, das sich in der Bauecke verkriecht und nie Blickkontakt sucht. Oder den wilden, schreienden Vierjährigen, der ständig aneckt – weil zu Hause niemand da ist, der ihn wirklich sieht.

Diese Kinder schreien, obwohl sie leise sind. Oder sie sind laut, weil sie verzweifelt nach Aufmerksamkeit rufen.
Sie fallen nicht erst mit 14 auf, wenn sie die Schule verweigern. Oder mit 16, wenn sie polizeibekannt werden. Wir sehen sie mit Drei mit 11 Jahren. Jeden Tag.

Und trotzdem bekommen wir oft keine Hilfe. Keine Fachkraft. Kein psychologisches Netzwerk. Stattdessen Dokumentationspflicht, Fachkräftemangel und der stille Druck, irgendwie weiterzumachen.

Corona war ein Brandbeschleuniger

Was viele nicht sehen wollen: Die Pandemie hat diese Probleme nicht geschaffen, aber massiv verschärft. Kinder waren über Monate isoliert. Ohne Spielkameraden, ohne Routine, ohne emotionale Sicherheit. Was wir heute erleben, ist die Spätfolge dieser sozialen Deprivation: Kinder, die sich nicht binden können. Jugendliche, die emotional verarmen. Rückzug, Wut, Kälte.

Corona hat Risse aufgerissen, wo vorher schon Sprünge waren.

Und ja – die Zeit nach der Pandemie ist eine pädagogische Dauerkrise. Viele Kinder sind in ihrer Entwicklung zurückgeworfen. Viele Jugendliche sind innerlich entgleist. Und wir haben keine Strukturen, um sie wieder aufzufangen.

Unsere Kinder sind keine Zeitbomben – aber sie brauchen Hilfe

Kein Kind wird als Gefahr geboren. Kein Jugendlicher „tickt“ einfach so aus. Was wir als Gewalt erleben, ist oft die letzte, verzweifelte Form von Kommunikation. Der letzte Versuch, gesehen zu werden. Und genau deshalb braucht es jetzt einen gesellschaftlichen und politischen Kurswechsel.

Was wir JETZT brauchen:

1. Elternunterstützung in Form eines „Familienführerschein“

Elternsein ist kein Selbstläufer. Ich fordere ein kostenloses Elternbildungsprogramm für werdende und junge Eltern – als Unterstützung, nicht als Zwang. Damit sie lernen, Kinder zu begleiten, zu stärken und zu führen von 0-18 Jahren. 

2. Psychologische Fachkräfte in jeder Bildungseinrichtung

Jede Schule, jeder Kindergarten braucht dauerhaft integrierte Schulpsychologinnen, Sozialarbeiterinnen und heilpädagogische Unterstützung – keine Projekte, keine Wartezeiten, keine Notlösungen. Wenn ein Kind Hilfe braucht, dann sofort – nicht erst nach Monaten.

3. Ein nationales Aufholpaket für mentale Gesundheit

Wir brauchen gratis Therapieangebote für Kinder und Jugendliche, spezialisierte Beratungsstellen, Traumabegleitung und niedrigschwellige Gruppenarbeit an den Orten, wo Kinder und Jugendliche täglich sind.

4. Verpflichtende Gewaltprävention ab dem Kindergarten

Mobbing beginnt nicht in der Oberstufe. Ausgrenzung, Gewalt, emotionale Verletzungen – das alles fängt viel früher an. Deshalb müssen soziale Kompetenz, Selbstwerttraining und Empathieförderung verpflichtender Teil der Bildung werden. Und zwar von Anfang an.

5. Mehr Personal, kleinere Gruppen, mehr Zeit

Pädagogik ist Beziehungsarbeit. Und Beziehung braucht Zeit. Wir brauchen bessere Betreuungsschlüssel, faire Arbeitsbedingungen und echte Investitionen in die Elementarpädagogik – nicht morgen, sondern jetzt.

Es geht nicht um Schuld – es geht um Verantwortung

Unsere Kinder sind keine tickenden Bomben. Sie sind verletzlich. Und wenn wir diese Verletzlichkeit ignorieren, werden sie zu Menschen, die sich selbst oder andere gefährden. Nicht aus Bosheit – sondern, weil niemand da war, der sie gesehen hat. Wir Pädagoginnen sehen sie. Jeden Tag. Die Frage ist: Wann beginnt die Politik endlich, auf uns zu hören? Denn jedes Kind, das wir verlieren, war irgendwann ein junges Kind, das man hätte auffangen können.

Graz. Der Täter ist nicht der Eine – der Einzelfall. Haben Sie sich schon mal die Frage gestellt – ob die Welt der Kinder & Jugendlichen wirklich diese vermeintlich heile Welt ist? 

Mein Name ist Silvia Janoch. Eine Pädagogin, die täglich hinsieht – für all jene Kinder, die sonst übersehen werden.