Was nach Science-Fiction klingt, ist real – und wissenschaftlich belegt. Ein internationales Forschungsteam, darunter Experten aus der Schweiz, hat ein KI-Modell entwickelt, das menschliches Verhalten erstaunlich genau vorhersagen kann. Sein Name: Centaur – halb Maschine, halb Menschenversteher.

Laut einer am Mittwoch veröffentlichten Studie im Fachjournal Nature übertrifft Centaur alle bisherigen KI-Systeme in einem zentralen Punkt: Es kann unser Verhalten in psychologischen Experimenten besser vorhersagen als jede andere Maschine – und manchmal sogar als wir selbst.

Wer bist du – wenn eine Maschine dich zerlegt? Die KI rekonstruiert, was dich antreibt.GETTYIMAGES/imaginima

Milliarden Daten, ein Ziel: den Menschen berechnen

Um Centaur zu trainieren, fütterten die Forscher das Modell mit einem gewaltigen Datenschatz: mehr als zehn Millionen Einzelentscheidungen aus 160 verschiedenen Experimenten, an denen mehr als 60.000 Menschen teilgenommen hatten. Das klingt harmlos – doch diese Daten liefern ein intimes Porträt unseres Denkens: Wie wir abwägen, zögern, reagieren. Was wir tun, wenn niemand zusieht.

Die KI basiert technisch auf einem bereits bestehenden Sprachmodell (Llama 3.1 70B), wurde aber so verfeinert, dass sie nicht nur Sprache versteht – sondern Entscheidungen rekonstruiert, bewertet und zukünftiges Verhalten simulieren kann.

Ein digitales Gehirn: Millionen Datenpunkte verbinden sich – und bilden Muster menschlichen Verhaltens.GETTYIMAGES/Yuichiro Chino

Sie kennt dich, auch wenn du ihr fremd bist

Besonders unheimlich: Centaur funktioniert auch bei Menschen, die gar nicht im Trainingsdatensatz enthalten waren. Selbst wenn Forscher die Regeln eines Experiments leicht änderten, blieb das Modell erstaunlich präzise. Es schien die zugrunde liegenden psychologischen Muster erkannt zu haben – und nicht bloß auswendig gelernt zu haben, was typisch ist.

Oder anders gesagt: Centaur kann verallgemeinern. Nicht perfekt, aber besser als alles, was wir bisher kannten. Und das ist für viele Psychologen so faszinierend wie beunruhigend.

Maschine mit Verstand? Die KI „Centaur“ denkt mit. GETTYIMAGES/Yuichiro Chino

Die wahren Anwendungen? Kommerziell – und geheim

Die Forscher betonen den wissenschaftlichen Nutzen: Mit einem solchen Modell lasse sich überprüfen, wie gut psychologische Theorien wirklich funktionieren – oder ob sie zu kurz greifen. Doch der Einsatz ist nicht mehr nur akademisch.

„Große Tech-Konzerne nutzen längst ähnliche Modelle – um unser Verhalten vorherzusagen, unsere Vorlieben zu analysieren, uns gezielt zu beeinflussen“, sagt Verhaltensforscher Clemens Stachl von der Uni St. Gallen. Seine Einschätzung: Diese Modelle sind extrem mächtig – aber ihre tatsächliche Qualität kennen nur ihre Schöpfer. Und die schweigen.

Mit anderen Worten: Während Wissenschaftler wie moderne Orakel Modelle wie Centaur entwickeln, könnten Unternehmen längst viel weiter sein. Vielleicht weiß deine Lieblings-App schon, was du denkst – bevor du überhaupt auf die Idee kommst, es zu denken.