Liebe und Inklusion: Die wundersame Geschichte von „Shalva“ in Jerusalem
Ein Kind mit Behinderung stellt das Leben der Eltern oft auf den Kopf. Rabbiner Kalman Samuels hat es selbst erlebt: Sein zweiter Sohn wurde gehörlos und blind. Später hat Samuels mit seiner Frau das Zentrum „Shalva“ gegründet, das Menschen mit Behinderung betreut und ihren Familien hilft. Es hat Pädagogen in aller Welt inspiriert.
Ein Kind mit Behinderung kann den Alltag einer Familie von einem Tag auf den anderen umkrempeln. „Man hat Träume und Ziele, und plötzlich ändert sich das Leben und man ist rund um die Uhr mit einem Kind und seinen gesundheitlichen Problemen beschäftigt“, sagt Kalman Samuels (71). Der Rabbiner gründete in Jerusalem gemeinsam mit seiner Frau Malki „Shalva“, eine Einrichtung, die täglich tausend, meist junge Menschen mit Behinderung betreut.
Was es bedeutet, wenn das eigene Kind schwere Behinderungen hat, erfuhr das Ehepaar zuvor am eigenen Leib. Samuels schilderte dem eXXpress die unglaubliche Geschichte.
Eine Impfung hinterließ lebenslange Schäden
Kalman Samuels wuchs in Vancouver, Kanada, in einer nicht-religiösen Familie auf. Mit 18 Jahren reiste er zum Studium nach Frankreich, machte einen Abstecher nach Israel, wo er sich für jüdische Denker zu interessieren begann. Schließlich studierte er hier, wurde Rabbiner und heiratete Malki Klein.
Im Jahr 1977 änderte sich alles. „Unser junges Leben wurde auf den Kopf gestellt“, berichtet Samuels. Yossi, der zweite Sohn des Ehepaars, erhielt mit elf Monaten eine DTP-Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten. Doch der damals über mehrere Monate hinweg in Israel verabreichte Impfstoff verursachte Probleme bei hunderten Kindern. Yossi wurde in der Folge blind, gehörlos und extrem hyperaktiv.
Als Yossi die Zeichensprache lernte, beschloss das Ehepaar auch anderen Familien zu helfen
Nichts war wie vorher. „Und um die Sache nicht noch schlimmer zu machen, wussten wir nicht, was los war. Die Ärzte versteckten das Problem, weil es mit dem Impfstoff zusammenhing“, erzählt der Rabbiner dem eXXpress. Das Paar hatte mehrere Kinder, doch es konnte sie nicht mit Yossi allein lassen. Die Kinder mussten permanent bewacht werden. Wohlmeinende Erzieher schlugen vor, Yossi außerhalb des familiären Umfelds unterzubringen, was die Mutter aber unter keinen Umständen wollte.
Im Alter von acht Jahren schaffte der Bub schließlich den Durchbruch: Yossi erlernte die Fingerzeichen. Mit ihnen unterhält er sich seither auf Hebräisch mit Anderen über das Betasten der Handinnenfläche. Die einzelnen Finger und Handpartien bedeuten bestimmte Buchstaben.
„Meine Frau setzte sich daraufhin mit mir zusammen und sagte: ‚Es ist Zeit für eine ‚Revanche‘‘“, berichtet Kalman Samuels. „Sie hatte zuvor Gott versprochen, anderen Familien zu helfen, sofern er Yossi hilft.“ Das Ehepaar gründete im Jahr 1990, nach fünf Jahren Vorbereitung, Shalva. Es fing klein an. „Malkis Ziel war es, ein wenig Ruhe in das Chaos zu bringen, in dem Menschen leben, wenn sie erfahren, dass sie ein Kind mit Behinderung haben, oder wenn sie versuchen, dieses Kind in der Familie zu erziehen.“
„Für die Familien bedeutete das Programm eine revolutionäre Veränderung“
Als erstes entwickelte Samuels Ehefrau Malki ein Nachmittagsprogramm für Kinder mit Behinderung. Der Schulbus führte die Kinder nicht mehr nach Hause, sondern in das Zentrum, wo sich Malki mit Mitarbeitern um die Kinder kümmerte – bis zum Abendessen. „Dann brachte Malki die Kinder in unserem Bus nach Hause. Für die Familien bedeutete das eine revolutionäre Veränderung. Die Eltern konnten in dieser Zeit normal arbeiten, und die Geschwister konnten in Ruhe ihre Hausaufgaben machen. Und wenn wir das Kind zu ihnen nach Hause brachten, konnten sie alles für es tun, was es braucht. Das Programm veränderte die Lebensqualität jeder Familie.“
Ein Jahr später kam ein Übernachtungsprogramm hinzu. An jedem Tag der Woche übernachtete eine andere Gruppe von Kindern in Shalva. In dieser Zeit brachten die Mitarbeiter den Kindern verschiedene Fähigkeiten bei, für die ihre Eltern meist keine Zeit hatten. „Das bedeutet eine Unterbrechung des ständigen Drucks, den Familien mit einem Kind mit Behinderung immer spüren“, berichtet der Rabbiner dem eXXpress.
Ein weiteres Programm wurde entwickelt für Mütter, die ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt bringen. „Die Mütter sind, ehrlich gesagt, völlig am Boden zerstört und kommen oft nicht damit klar. Malki war immer der Meinung, dass die Lösung für diese Situation nicht ein Arzt ist oder ein Sozialarbeiter.“ Einmal in der Woche trafen sich die Mütter zum Austausch, erhielten verschiedene Therapien, darunter Schwimmen in einem Pool mit ihrem Baby. „Die Mütter lernten andere Mütter in ähnlichen Situationen kennen und bemerkten, dass sie nicht allein sind. Sie konnten voneinander lernen. Das Programm bewirkte, dass die Mutter wieder ein gesundes, normales Leben führen kann.“
Insgesamt 2000 Menschen werden heute betreut
Schließlich entstand auch noch eine Kindertagesstätte und eine Vorschule, sowie ein Berufsausbildungsprogramm. „Diese Programme laufen rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Es gibt auch Projekte für das Wochenende. An diesem Freitag zum Beispiel fahren mehr als 200 Kinder zu einem Sommercamp im Norden Israels. So betreut Shalva mittlerweile jeden Tag tausend Menschen, von Müttern mit Babys von der Geburt bis zum Erwachsenenalter.“ Es wurden Appartements eingerichtet, in denen manche Kinder später, wenn sie erwachsen geworden sind, wohnen.
Natürlich ist schon längst die Politik auf Shalva aufmerksam geworden. Das Jahresbudget der gemeinnützigen Organisation beträgt 25 Millionen Dollar. 40 Prozent steuert die Regierung bei, darüber hinaus „müssen wir immer noch Spenden sammeln in der philanthropischen Welt.“ Ein beachtliches Gebäude wurde mittlerweile in Jerusalem errichtet, und dort gibt es eine weitere Einnahmequelle: „Wir haben dort ein großartiges Kaffeehaus mit dem besten italienischen Café. 85.000 Besucher kommen hierher im Jahr.“ In Summe besichtigen 200.000 Menschen jährlich Shalva. Die Organisation setzt sich überdies für die Inklusion von Menschen mit Behinderung ein. Die Akzeptanz soll unter anderem durch Besuche im Zentrum wachsen. „Sehr häufig werden Kinder mit Behinderung im öffentlichen Raum nicht akzeptiert.“
Die Familien tragen nicht die Kosten, allerdings möchte die Regierung, dass die Eltern ebenfalls einen Betrag an die Stadt Jerusalem zahlen, und der variiert, je nach den finanziellen Mitteln der Eltern. „Noch nie ist die Betreuung eines Kindes am Geld gescheitert.“
Unter dem Einfluss von Shalva sind ähnliche Einrichtungen in aller Welt entstanden
Mittlerweile gibt es fast keine Behinderung, mit der man bei Shalva noch keine Erfahrungen gemacht hat. 550 Pädagogen und Experten arbeiten hier. Die Kinder werden in verschiedene Gruppen aufgeteilt, je nach Behinderung. Sehr gut funktionieren gemeinsame Klassen für Kinder mit Autismus und Kinder mit Down-Syndrom. „Das klappt hervorragend, weil die Kinder mit Down-Syndrom sehr viel Energie haben und sich Kinder mit Autismus sehr gut mit ihnen verstehen.“
Zahlreiche Erzieher in Afrika, Europa, Nord- und Südamerika und jüngst auch in Sibirien haben sich von Shalva beraten lassen. „Im Laufe der Jahre waren wir maßgeblich an der Gründung vieler neuer Zentren in der ganzen Welt beteiligt, die beschlossen das zu tun, was Shalva macht. Was uns auszeichnet, das sind die Programme, die meine Frau eingerichtet hat, die zuvor selbst Erfahrungen mit unserem Sohn gesammelt hat.“
Der Familie soll es besser gehen, damit es den Kindern besser geht
Shalva konzentriert sich nicht nur auf das Kind. Das erklärte Ziel von Shalva war es vom ersten Tag an, die Familien zu entlasten. „Wenn es der Mutter nicht gut geht, wird es auch dem Kind nicht gut gehen.“
Die Odyssee mit ihrem Sohn mündete für das Ehepaar in der Verwirklichung eines Projekts, das heute weltweit bewundert wird, zu dem mittlerweile auch geforscht wird. Das Wort „Shalva” stammt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie „Seelenfriede“. Es stammt aus Psalm 122, Vers 7: „Friede sei in deinen Mauern, Geborgenheit in deinen Häusern!“.
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