
„Verstörende Interviews“: Nach Graz-Attentat schwere Vorwürfe gegen ORF
Der ORF zeigte sich im Zuge der Berichterstattung über das Schussattentat in einem Grazer Gymnasium wenig pietätsvoll. Der Staatsfunk strahlte mehrere Interviews mit teils minderjährigen Schülern aus, die den Anschlag miterlebt haben und offenbar unter Schock standen. Von Lucas Ammann
„Die Schule, gestern Tatort, wird heute zum Trauerort vieler.“ So beginnt der ORF einen Beitrag zum Graz-Attentat im Gymnasium Dreierschützengasse am Mittwochabend in seiner Hauptnachrichtensendung „ZIB2“. „Wer Hilfe sucht, findet sie wenige Meter weiter in der Helmut-List-Halle. Kameras müssen draußen bleiben – aus Respekt vor Schmerz und Trauer“, heißt es in dem TV-Beitrag weiter.
Kein Grund für den ORF, die trauernden jugendlichen Schüler außerhalb der Halle zu filmen und zu interviewen. Direkt danach zeigt die ZIB zwei überlebende Freunde eines getöteten Mitschülers. „Wir haben mit ihm eine Stunde davor noch gesprochen, Spaß gehabt“, sagt einer in Bezug auf ihren nun verstobenen Freund. Einer der beiden Interviewten ist noch minderjährig. Der Junge beschrieb im Interview selbst, wie er gezittert hat und auch der ORF stellt direkt danach fest, dass „das Erlebte noch lange nicht verarbeitet ist.“ Warum man deshalb Minderjährige im nationalen gebührenfinanzierten Fernsehen zeigen muss, erfährt der Zuschauer nicht.
Mehrere Minderjährige interviewt
Während Medien wie exxpress Schüler in Interviews aus Pietätsgründen verpixelt haben, zeigte der Staatsfunk die trauenden Schüler mit dem ganzen Gesicht, Vornamen und Alter. Ob im Falle der Minderjährigen eine Zustimmung bei den Erziehungsberechtigten eingeholt wurde, ist nicht bekannt. Der ORF reagierte auf eine Presseanfrage von exxpress bis zum Redaktionsschluss für diesen Beitrag nicht.
Auch der ORF-Influencer Idan Hanin interviewte für den Instagram-Account der „Zeit im Bild“ mehrere Schüler. „Nach Amoklauf in Graz: Jugendliche aus der betroffenen Schule berichten“, heißt sein Videobeitrag, der nach wie vor online ist. Darin werden mehrere offenbar minderjährige Schüler interviewt. Im Beitrag sagt ein Schüler, dass man sie gebeten habe, keine Interviews zu geben. Trotzdem wird das Gespräch online gestellt.
Schulsprecher meldet sich zu Wort
In dem Beitrag wurde nur eine Person anonymisiert, weil diese offenbar selber anonym bleiben wollte, die restlichen Schüler wurden gezeigt. Das ist deshalb problematisch, weil junge Menschen oft medienöffentliche Situationen schlecht einschätzen können und im Nachhinein über eigene Aussagen, die sie im Schock oder in der Trauer gesagt haben, verstört sein könnten. Gerade Minderjährige haben typischerweise keine Erfahrung im Umgang mit Medien und wissen nicht, worauf sie beim Sprechen in der Öffentlichkeit achten müssen.
Auf Instagram meldete sich unter dem Beitrag der ZIB 100 unterdessen der stellvertretende Schulsprecher des Gymnasiums zu Wort. Man habe den ORF-Influencer Hanin „und seine Kollegen mehrfach aufgefordert, zu respektieren, dass der Lehrkörper sowie die Schülervertretung derzeit nicht wünschen, dass Bilder von Schulbesuchern im Internet landen”.
„Lassen Sie die Schüler in Ruhe!“
Auch er findet, dass Schulbesucher im Nachhinein durch solche Interviews verstört sein könnten. Der Bitte von Schülervertretung und der Schulleitung ist der ORF offenbar aber nicht gefolgt. „Wir ersuchen Sie, die Schulteilnehmer in Ruhe zu lassen!“, schreibt der stellvertretende Schulsprecher in seinem Kommentar an den ORF.
Kritik gibt es auch von anderen Journalisten, wie etwa profil-Chefredakteurin Anna Thalhammer, die in einen Twitter-Posting auf eine Aussage von Ö1-Mitarbeiter Stefan Kappacher reagiert: „Kollege Stefan Kappbacher hat heute in seinem Beitrag behautpet, wir (gemeint ist das profil, Anm.) wollten den Schockmoment der Mutter ausnutzen. Das weisen wir klar zurück. Und fragen uns, was der ORF dazu sagt.“
Moralisierende Berichterstattung
Thalhammer fügte ihrem Posting einen Screenshot des Hilferufs des Schulsprechers hinzu, der den ORF kritisierte. Die profil-Chefin regierte auf Kritik – etwa des „Standard“ – an einem Beitrag mit dem Titel „Daheim beim Amokläufer: ‚Er war total in sich gekehrt‘“ in ihrem eigenen Magazin. Im Unterschied zum ORF kamen in dem Beitrag aber keine identifizierbaren Personen vor.
Kollege Stefan Kappbacher hat heute in seinem Beitrag behauptet, wir wollten den Schockmoment der Mutter ausnutzen. Das weisen wir klar zurück. Und fragen uns, was der ORF dazu sagt. Jener ORF, der auch die Siedlung gezeigt hat. pic.twitter.com/p91gZVptaE
— Anna Thalhammer (@anna_thalhammer) June 12, 2025
Wie exxpress bereits berichtet hat, fällt etwa der linke „Standard“ immer wieder mit moralisierender Berichterstattung in Bezug auf Boulevardmedien – und in dem Fall auch in Bezug auf das profil – auf. Im Falle des ORF ist das linke Blatt aber bisher erstaunlich ruhig.
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