Auf dem Weg zum Überwachungsstaat? Henna Virkkunen, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie, verkündete kürzlich stolz auf X: „In Europa gibt es keinen Platz für illegalen Hass, weder offline noch online.“ Daher begrüße die Kommission einen neuen und verbindlichen „Verhaltenskodex“ zu illegaler Hetze im Internet, der als Teil des „Digital Services Act“ (DSA, auf deutsch: „Gesetz über digitale Dienste“) verabschiedet wurde.

Henna Virkkunen (Bild) freut sich über den Kampf gegen „illegalen Hass“. Seit wann ist Hass illegal?APA/AFP/Nicolas TUCAT

Die Ankündigung sorgt für Irritationen auf der Plattform X. Viele sehen damit den Weg zu einer umfassenden Internetüberwachung und Zensur durch die EU geebnet. „Habt ihr nicht verstanden, dass Orwells 1984 als Warnung und nicht als Anleitung geschrieben wurde?“, schreibt einer. Vor allem der Begriff „illegaler Hass“ stößt auf massive Kritik. „Kann mir jemand erklären, was ‚illegaler Hass‘ ist?“, fragt ein User. Ein anderer erklärt: „Sie wollen definieren, was ‚Hass‘ ist? Das ist Zensur. Sie werden damit scheitern. Meinungsfreiheit ist eine Grundvoraussetzung für Demokratien. Aber vielleicht haben Sie keine Demokratie für unsere Zukunft im Sinn“.

„Vertrauliche Hinweisgeber“ sollen problematische Inhalte melden

Der exxpress hat bereits mehrfach über das DSA berichtet. Dabei handelt es sich um eine Verordnung der Europäischen Union, die europaweit einheitliche Sicherheitsregeln für digitale Plattformen festlegt, um die Verbreitung „illegaler“ Inhalte zu verhindern.

Alle Online-Plattformen werden von Brüssel aus kontrolliert und von vermeintlich schädlichen Inhalten gesäubert.APA/AFP/Kenzo TRIBOUILLARD

Dazu werden mittlerweile in allen EU-Mitgliedsstaaten so genannte „Trusted Flaggers“ (vertrauenswürdige Hinweisgeber und Faktenüberprüfer) eingerichtet, die vermeintlich problematische Inhalte melden. Die Internetplattformen müssen dann diesen „Trusted Flaggers“, die niemand kennt und die nie von den europäischen Bürgern gewählt wurden, folgen und die von ihnen gemeldeten Inhalte löschen.

Ende Jänner kündigte Virkkunen an, für diese Schnüffeltätigkeit noch mehr Mitarbeiter in der Brüsseler Koordinierungsstelle einstellen zu wollen. Sie will die Zahl der Mitarbeiter um ein Viertel auf 200 erhöhen, um die Einhaltung des DSA zu gewährleisten.

Ex-Kommissar Thierry Breton drohte bereits mit Abschaltung sozialer Netzwerke

Brüssel verkauft den DSA als Verteidigung der Demokratie, Kritiker – darunter Juristen, Oppositionsparteien, Bürgerrechtler und IT-Experten – sehen in der EU-Verordnung hingegen eine Gefahr für den liberalen Rechtsstaat und die Grundrechte.

Der ehemalige EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Thierry Breton (Bild), hat sich in der Vergangenheit den Ruf des obersten Zensurbeamten in Brüssel erworben.APA/AFP/POOL/Olivier Matthys

Im Sommer 2023 sorgte der damalige EU-Kommissar Thierry Breton für einen Eklat, als er nach den Unruhen in Frankreich ankündigte, soziale Netzwerke auf Grundlage des DSA notfalls abzuschalten. Der Aufschrei in der Zivilgesellschaft war enorm, solche Maßnahmen kennt man eher aus autoritären Staaten als aus Demokratien.

Auch kritische oder nachteilige Online-Einträge sollen gelöscht werden

Nach Artikel 34 des DSA müssen Plattformbetreiber nicht nur rechtswidrige Inhalte löschen, sondern auch kritische und nachteilige Einträge prüfen. Der pensionierte Richter Manfred Kölsch sieht darin einen Beleg für den antidemokratischen Hintergrund, mit dem die EU-Kommission das DSA vorangetrieben habe.

Zudem beschreite Brüssel hier einen Weg in Richtung Zentralismus: Denn die nationalen Koordinatoren sind gegenüber der EU-Kommission weisungsgebunden. Damit werde noch mehr Verantwortung von den EU-Ländern nach Brüssel verlagert. Der Staat überlässt Eingriffe in die Meinungs- und Informationsfreiheit, die er selbst nicht vornehmen dürfte, Dritten wie zivilgesellschaftlichen Whistleblowern und Plattformbetreibern. Die Gefährdung demokratischer Grundrechte durch das DSA werde nur schleichend und hinter einer rechtsstaatlichen Fassade sichtbar.

„Bedrohung durch EU-Bürokraten viel größer als durch Internet-Trolle“

Auch Florian Roth, Leiter der Forschungsabteilung bei Deutschlands führendem Technologieunternehmen für Sicherheitslösungen, warnt angesichts der jüngsten Äußerungen von EU-Vizepräsidentin Henna Virkkunen eindringlich vor den Folgen des DSN für Demokratie und Meinungsfreiheit: „In Europa wird nun unter Strafe gestellt, was manche als ‚Hassrede‘ bezeichnen. Was ist ‚Hassrede‘? Ganz einfach: Es ist eine Rede, die sie hassen“.

Die „vertrauenswürdigen Berichterstatter“ und Faktenprüfer der EU, die Online-Postings auf sogenannte Desinformation und „Hassrede“ überwachen, fungierten „als modernes Ministerium für Wahrheit“. Die Angst vor Fake News und Hate Speech sei maßlos übertrieben, viel größer sei die Gefahr, die von den neuen Zensurmaßnahmen der EU ausgehe: „Die Menschen in Europa sehen nicht, dass ein Internet-Troll, der flucht, oder ein Anhänger der Theorie der flachen Erde, der sich im Internet auslässt, eine Bagatelle ist im Vergleich zur wirklichen Bedrohung – Bürokraten, die unser Leben, unsere Redefreiheit und unsere Freiheit immer mehr einschränken.“

Das könnte auch politisch brisante Folgen haben: „Die EU hat im vergangenen Jahr sogar die Parlamentswahlen in Rumänien für ungültig erklärt und behauptet, es habe ‚massiven russischen Einfluss‘ gegeben – und das alles nur, weil einige TikTok-Influencer sich politische Inhalte angeschaut hatten. Später gab sie zu, dass es keine wirkliche Einmischung von außen gegeben habe, aber die Wahl wurde trotzdem für ungültig erklärt“.

Das könnte weitreichende Folgen haben: „Stellen Sie sich das vor: Eine externe Instanz wie die EU kann nationale Wahlen für ungültig erklären, indem sie einfach erklärt, „Desinformation“ habe die Wähler beeinflusst. Das ist mehr als beunruhigend.“