Ex-Berater von Selenskyj warnt: Ukraine-Nationalismus gefährlicher als Putin
Der ukrainische Nationalismus bedrohe das Land stärker, als die russische Invasion. Das behauptet Selenskyjs Ex-Berater Oleksij Arestovych. Jeder zweite wehrfähige Ukrainer wolle deshalb nicht zur Armee. Er wolle nicht für eine Ukraine kämpfen, in der er am Ende Bürger zweiter Klasse ist. Überdies sei ein NATO-Beitritt der Ukraine unrealistisch.
Beim Start der Invasion war der ukrainische Offizier Oleksij Arestovych (48) Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (45). Später wurde er zum schärfsten Kritiker der Selenskyj-Regierung und verließ das Land aufgrund der Strafverfolgung gegen ihn. Bei den kommenden Präsidenten-Wahlen möchte er gegen Selenskyj antreten. In einem einstündigen Interview mit dem britischen Online-Medium unherd rechnet Selenskyjs lautstärkster und umstrittenster Kritiker mit Kiews Fehlern ab.
Ukrainischer Nationalismus bedroht das Land
Für höchst zerstörerisch hält Arestovych den „ukrainischen Nationalismus“, der das Land zu zerreissen drohe: Das „ist die Idee von weniger als 20 Prozent der Ukrainer“. Die restlichen 80 Prozent seien dagegen. Es drohe „der Verlust des russischsprachigen Territoriums zum Beispiel im Osten der Ukraine und im Süden“. Die Ukraine habe offiziell 58 Nationalitäten, in Wahrheit mehr als hundert. Doch 1991 begannen Politiker, die Ukraine „in ein eher monokulturelles Land umzuwandeln“. Fazit: Der ukrainische Nationalismus „ist die gefährlichste Idee und eine schlimmere Gefahr als die militärische Aggression Russlands, denn niemand von diesen 80 Prozent möchte für ein System sterben, in dem sie Menschen zweiter Klasse sind“.
Die Hälfte der wehrfähigen Männer will nicht rekrutiert werden
Das führe zu massiven Problemen bei der Armee. „Als ich im Amt war, sagte man mir: 4,5 Millionen Männer, etwa die Hälfte der gesamten männlichen Bevölkerung im kampffähigen Alter, wollten sich nicht im Rekrutierungszentrum registrieren lassen – und zwar nicht zu Rekrutierungszwecken, sondern um ihre persönliche Daten zu überprüfen. Das ist der Beweis dafür, dass wir unser Volk nicht erfolgreich für diesen Krieg motivieren.“ Schuld sei der Versuch, eine „monokulturelle“ Ukraine zu etablieren. „Jene 4,5 Millionen Ukrainer wollten nicht für diese politische Idee rekrutiert werden“. Die Ukraine müsse „polykulturell“ bleiben und eine Föderation werden, „da der Süden der Ukraine völlig anders ist als der Norden“.
Kiew sollte sich nicht auf den Donbass konzentrieren
Ebenso hält Oleksij Arestovych die Kriegsstrategie Selenskyjs für falsch, weil sie sich zu sehr auf den Osten konzentriere: „Der Donbass liegt in der Nähe russischer Regionen, steht seit zehn Jahren unter russischer Besatzung. Es gibt eine ganze Generation, die noch nie in der Ukraine gelebt hat. Es ist wie eine Nation in Großbritannien, etwa Nordirland“. Viel wichtiger als der Donbass sei die Krim. Es brauche Stabilität in der Schwarzmeerregion und „Export und Import, die für die ukrainische Wirtschaft sehr wichtig“ sind. Ein Ziel des Konflikts müsse die Stabilität der Schwarzmeerregion sein.
„Die Russen wollten weiter verhandeln, wir lehnten ab“
Kurz nach der Ukraine-Invasion war eine Einigung zwischen Kiew und dem Kreml in Reichweite. (Der eXXpress berichtete mehrmals.) Kiew beendete die Verhandlungen in Istanbul, gegen den Willen Moskaus. Das bekräftigt nun auch Arestovych: „Ich war Mitglied des Istanbul-Prozesses und es war die profitabelste Vereinbarung, die wir hätten treffen können.“ Anfang April war man in der Zielgerade. Der nächste Verhandlungsschritt stand bevor: „Die Istanbuler Vereinbarungen waren ein Absichtsprotokoll, das zu 90 Prozent auf ein direkte Treffen mit Putin vorbereitet war.“
Doch dazu kam es nie. Eine Rolle könnte dabei das Massaker in Bucha gespielt haben: „Der Präsident war schockiert über Bucha. Wir waren alle schockiert. Selenskyjs Gesicht veränderte sich völlig, als er sah, was passiert war.“ Überdies reiste der damalige britische Premierminister Boris Johnson nach Kiew. „Niemand weiß, worüber sie gesprochen haben.“ Die Folge: In der ersten April-Woche „beendeten die Mitglieder der Verhandlungsgruppe jegliche Gespräche“. Fazit: „Die Russen haben Bereitschaft gezeigt, die Verhandlungen fortzusetzen, und wir haben abgelehnt.“
EU- und NATO-Mitgliedschaft für Ukraine „unrealistisch“
Arestovych hält fest: „Ich bin voll und ganz für eine unabhängige Ukraine, die den Weg Israels oder Südkoreas einschlägt. Sie wird weder Teil Russlands, noch der NATO sein.“ Letzteres wird zurzeit angestrebt. „Für mich ist es völlig unrealistisch, dass die Ukraine überhaupt auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union oder der NATO hoffen kann. In der jetzigen Situation ist das unmöglich“. Ein zentrales Problem sei: „Der Preis für den Westen, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, ist ein großer Krieg mit Russland, und der kollektive Westen ist nicht bereit, diesen Preis zu zahlen.“
„Brauchen Verhandlungen über die Sicherheit von ganz Osteuropa“
Dass nun neuerlich Gespräche zwischen Kiew und Moskau beginnen, sei mittlerweile ebenfalls „absolut unmöglich.“ Nun bauche es „keine russisch-ukrainischen Verhandlungen, sondern Verhandlungen über die gesamte Sicherheit Osteuropas“. Die Argumente von Arestovych: Das bisherige Sicherheitssystem funktioniere nicht mehr. „Wir müssen in Europa ein neues schaffen.“ Überdies müsse man die Ängste Moskaus ernst nehmen. „Russland fühlt sich nicht sicher. Wir können darüber spotten und sagen, dass wir nie aggressiv gegenüber Russland waren, aber die Russen denken es.“
Es brauche große Verhandlungen mit allen NATO-Mitgliedern, allen EU-Nachbarn, sowie mit Russland und Weißrussland. „Die Alternative wären 10 bis 15 Jahre Krieg“. Der Ex-Berater ist pessimistisch. Er glaubt nicht an baldige Gespräche: „Ich denke, wir stehen in Europa vor 10 oder 15 Jahren Krieg.“
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