265 Tage nach seinem Rücktritt präsentiert Karl Nehammer sein Buch „Sich selbst treu bleiben“. Ort, Timing, Botschaft – alles ist sorgfältig inszeniert. Der Ex-Kanzler rahmt sein politisches Erbe als Frage der Haltung und nennt sein Werk „eine Einladung in die politische Mitte“. Doch genau hier beginnt das Problem: Die vielbeschworene Mitte braucht Bewegung und Kompromissfähigkeit. Wer sich in erster Linie selbst treu bleibt, bewegt sich nicht – und riskiert, im politischen Betrieb zum Störfaktor zu werden.

Prinzipientreue oder schlicht Unbeweglichkeit?

Nehammer betont gegenüber Krone: „Ich habe vor der Wahl gesagt, dass ich mit Radikalen keine Regierung bilden werde und ich habe dieses Wort auch nach der Wahl gehalten.“ Das ist klar – und politisch konsequent. Aber Konsequenz kann hin zur pauschalen Verweigerung kippen. Genau daran zerbrachen die Gespräche mit der FPÖ. Wer seine Linie zur Unverhandelbarkeit erklärt, schließt Kompromisse systematisch aus. Eine Demokratie lebt jedoch vom Ausgleich.

Die Behauptung vom verhinderten Kanzler

Besonders steil ist Nehammers Satz: „Mein Rücktritt hat dazu geführt, dass Herbert Kickl seine Chance, Kanzler zu werden, nicht wahrgenommen hat.“ Diese Deutung verschiebt Verantwortung – weg von eigener Verhandlungsschwäche, hin zum politischen Gegner. Faktisch blieb nach gescheiterten Sondierungen ein Vakuum, das andere füllten. Zu behaupten, der Rücktritt habe Kickl verhindert, ist eine rhetorische Pirouette: Sie adelt das eigene Scheitern zur strategischen Meisterleistung.

Mittelerzählung mit Ränder-Methoden

Nehammer verkauft sein Buch als Mitte-Projekt. Die Praxis seiner Linie passt dazu nur bedingt. Mitte heißt Brücken bauen, Mehrheiten organisieren, Gegensätze moderieren. Wer zentrale Akteure kategorisch ausschließt, agiert eher wie jene politischen Ränder, die nur auf der eigenen Linie beharren. Genau deshalb wirkt der Gestus des Sich-selbst-Treu-Bleibens weniger wie zentristische Stärke als wie stille Radikalität – höflich formuliert, aber kompromisslos in der Sache.

Was von der Amtszeit bleibt

Nehammer betont seine Krisenerfahrung, seinen Einsatz gegen Islamismus und den Versuch, Putin „mit dem Leid zu konfrontieren“. All das zeigt Pflichterfüllung – aber kein Gespür für den Moment, in dem Kompromisse notwendig sind. Die große Erzählung vom prinzipientreuen Staatsmann verschweigt, dass Prinzipien ohne Dialogfähigkeit die Handlungsfähigkeit einschränken. Und dass ausgerechnet eine „starke Mitte“ leidet, wenn sie Gespräche verweigert.