
„Ich bin nur eine Nummer“: Ukrainische Soldaten verlassen ihre Einheiten
Tausende ukrainische Soldaten sind desertiert. Die genaue Zahl ist geheim. Das Thema beherrscht mittlerweile die Schlagzeilen in der Ukraine. Erst kürzlich verschwanden 56 Soldaten der 155. mechanisierten Brigade während eines Trainings in Frankreich, ihr Kommandeur wurde verhaftet. Der Personalmangel in der Armee wird immer gravierender.

Vor allem bei der ukrainischen Infanterie fehlen Truppen, was Russland den Vormarsch nach Osten erleichtert. Um das Problem zu entschärfen, beschloss Präsident Selenskyj, unerfahrene Rekruten direkt in bestehende Bataillone zu integrieren. Doch die Lage an der Front spitzt sich zu. Die Soldaten haben kaum Pausen, viele leiden unter schweren körperlichen und psychischen Schäden.

Verwundete an der Front, unrealistische Befehle der Kommandanten
„Jeder ist müde“, berichtet ein Soldat dem Guardian. Früher umarmten die Menschen die Soldaten auf der Straße – heute haben sie Angst, selbst eingezogen zu werden. Als Russland die Ukraine angriff, sei er bereit gewesen, sein Leben zu geben, erzählt er der britischen Tageszeitung. Aber die Realität des Krieges hat ihm seine Illusionen genommen. Die Kämpfe waren brutal, die Kommandanten gaben unrealistische Befehle, und die Verwundeten wurden direkt wieder an die Front geschickt. Als er selbst verwundet wurde, erkannte er: „Ich bin nur eine Nummer“. Nach der medizinischen Behandlung kehrte er nicht mehr zu seiner Einheit zurück. Er ist kein Einzelfall.

Ein anderer Deserteur beschreibt den Kampf als chaotisch: Mangel an Artillerie, keine Unterstützung, hohe Verluste. Er tauchte unter, als sein Versetzungsgesuch abgelehnt wurde. Aber er würde zurückkehren – wenn die ukrainische Armee nach westlichen Standards reformiert würde.

„Die Menschen sind erschöpft, ihre Familien zerbrechen“
Die ukrainische Ombudsfrau für Militärrechte, Olha Reschetylowa, bestätigt das Problem gegenüber dem Guardian: „Das ist normal nach drei Jahren Krieg. Die Menschen sind erschöpft, ihre Familien zerbrechen.“ Viele Soldaten entwickeln psychische Krankheiten, kleine Konflikte mit Vorgesetzten oder der Frust über die Strukturen treiben sie in die Flucht. „Das kann man nicht mit Strafen lösen“, sagt sie. Die Soldaten stünden vor der Wahl: Tod an der Front oder Gefängnis wegen Desertion.

Die Regierung sucht nach Lösungen. Neue Gesetze sollen die Versetzung in andere Einheiten erleichtern, doch die Kommandeure blockieren viele Anträge wegen Personalmangels. Außerdem wird über Maßnahmen zur Rekrutierung junger Männer zwischen 18 und 25 Jahren nachgedacht, unter anderem über bessere Ausbildungsmöglichkeiten.
Armee gibt Mangel an Infanteristen offen zu
Die Desertionen sind für die Truppen an der Front spürbar. Andrii Hrebeniuk, Hauptfeldwebel in Donezk, sagt: „Das passiert oft. Einige kehren zurück, andere nicht. Sie brauchen einen psychologischen Reset. Die 110. Brigade hat öffentlich bekannt gegeben, dass ihr Infanteristen fehlen – eine seltene Offenheit in der ukrainischen Armee. „Wir müssen mit dem Klischee aufräumen, dass jeder, der sich meldet, innerhalb von fünf Minuten stirbt. Es gibt Überlebensstrategien.“

Dennoch bleiben Hunderttausende Soldaten auf ihren Posten. Reschetylowa betont: „Die Rekrutierungskrise könnte gelöst werden, wenn die westlichen Verbündeten eigene Truppen schicken würden. Aber das tun sie nicht.“
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