Neue Weltordnung – ohne Europa: Ulrike Guérot nach ihrer Russlandreise
Ulrike Guérot zeigt, wie Kriege zur digitalen Simulation werden und Gespräche verstummen. In Russland erlebte sie Diskurs und Offenheit – in Europa hingegen Stillstand, Selbstgewissheit und den Verlust jeder Perspektive.
Ulrike Guérot (Jg. 1964) ist Professorin, Publizistin und Bestsellerautorin. Seit rund drei Jahrzehnten forscht und lehrt sie an Thinktanks und Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington, New York, Wien und Berlin zu Fragen der europäischen Demokratie und der Rolle Europas in einer sich wandelnden Weltordnung. In einem aktuellen Interview mit Philip Hopf von HKCM spricht sie offen darüber, wie Europa den Anschluss an die globale Realität verliert.
Warum war Guérot in Russland – und in welcher Funktion?
Guérot reiste als Autorin und Wissenschaftlerin nach Russland, weil zwei ihrer Bücher auf Russisch erschienen sind. In Moskau hielt sie dazu zwei Vorträge mit Diskussionen: einmal in der Galerie Tayen (französische Galerie), einmal im „Europäischen Haus“ der Russischen Akademie der Wissenschaften – jeweils mit anschließender Debatte, u. a. in einem Roundtable mit etwa 50 Teilnehmern zu deutsch- und europäisch-russischen Beziehungen.
Anschließend fuhr sie mit dem Schnellzug nach St. Petersburg, um zwei Formate zu besuchen: das Petersburger International Economic Forum (SPIEF) sowie eine dreitägige Konferenz an der St. Petersburg State University (Philosophische Fakultät) zum Thema „Good and Evil in European Thought“. Dort referierten Forschende aus vielen Ländern; es soll ein Sammelband entstehen, zu dem Guérot einen Beitrag beisteuert.
„Brandmauer statt Analyse“: Was Europa falsch macht
Guérot kritisiert eine mentale Brandmauer gegenüber Russland: Moralrhetorik statt Analyse, Abschottung statt Gespräch. Ihr Kernvorwurf: Europa verweigert das Gespräch und nimmt globale Dynamiken außerhalb des Westens kaum zur Kenntnis. Während in St. Petersburg am SPIEF Delegationen aus Asien, Afrika und Lateinamerika Präsenz zeigen und Geschäfte anbahnen, fehlt Europa – und überlässt anderen die Bühne. Ergebnis: „Die Welt wird neu verhandelt – ohne Europa.“
Ideologisierte Diskurse & „Manufactured Consent“
Nach Guérot dominiert im Westen ein ideologisierter Diskurs, der Debatten verengt: Von Corona über Klima bis Krieg – Angstzyklen und Konformitätsdruck ersetzten nüchterne Auseinandersetzung. Medien- und Politikbetrieb erzeugten einen hergestellten Konsens, der Selbstkritik und Widerspruch marginalisiert. Die Folge ist eine Gesprächsunfähigkeit die sich auch gegenüber Russland deutlich zeigt.
Innen- und Außenfeind: Lawfare & Warfare
Sie zeichnet ein Muster des „innerer und äußerer Feind“: Innen werden missliebige Kräfte juristisch bekämpft (Lawfare), außen dient Russland als Feindbild (Warfare). Das legitimiere Einschränkungen von Meinungsfreiheit – angeblich zum Schutz der Demokratie, de facto als Diskursverhärtung. Sie stellt daher die Forderung nach mehr Selbstreflexion und weniger Feindbildpflege.
Guérot plädiert für Deeskalation und Verhandlungen. Ausgangspunkt müsse sein, den anderen beim Wort zu nehmen. Beispiel Ukraine: Wenn Moskau öffentlich Neutralität und Föderalität als Ziele nennt, müsse Europa prüfen und verhandeln, statt reflexhaft zu dämonisieren. Sie verweist auf historische Präzedenz (Kuba-Krise): Es braucht gesichtswahrende Lösungen – sonst bleibe der Krieg ein Abnutzungsszenario.
„"Das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten."
— Ulrike Guérot (@ulrikeguerot) October 1, 2025
(Hannah Arendt)@JohannesVarwick Danke dafür! Du bist einer der ganz wenigen universitären Kollegen, die noch mit mir sprechen!
Das gilt im übrigen ebenso für die… https://t.co/pIqYRzacZ1
Krieg 2.0: Drohnen, Automatisierung, „Gamification“
Ein besonders eindringlicher Teil des Gesprächs ist Guérots Analyse des modernen, technologisierten Krieges. Sie beschreibt, wie durch Drohnensteuerung, Automatisierung und künstliche Intelligenz der Krieg seine moralische Dimension verliert – und damit auch die letzte menschliche Hemmschwelle fällt.
Heute erlebe sie eine Jugend, die durch Videospiele und Bildschirmsozialisation eine gefährliche Entfremdung erfahren habe. „Wir haben 5.000 Jahre gebraucht, um Sprache und Denken zu differenzieren – und sind jetzt bei Emojis angekommen“, sagt sie. „Wir verlieren Lesefähigkeit, Argumentationsfähigkeit, und mit dem Wischen statt Lesen verschwinden auch kognitive Fähigkeiten.“
Diese digitale Prägung, so Guérot, schlage sich auch im Kriegsverständnis nieder: „Wenn ich junge Menschen an einen Bildschirm setze und sie Drohnen steuern lasse, ist das nichts anderes als ein Videospiel. Die Gamification des Krieges macht Töten abstrakt.“
Guérot verweist auf neue Entwicklungen in der Kriegsführung: autonome Drohnenschwärme, die „wie Raubvögel“ ohne menschliche Steuerung auf Zielobjekte losgehen – programmiert nur auf Bewegungsmuster. „Das ist der Punkt, an dem Krieg endgültig entmenschlicht wird“, warnt sie.
Krieg ist kein „Safe Space“
Sie spricht von einer „verweichlichten Generation“, die in „Befindlichkeitsdiskursen“ wie Gender, Diversity oder Triggerwarnungen sozialisiert wurde – aber keine Vorstellung mehr davon habe, was reale Gefahr bedeutet. „Krieg ist kein Safe Space“, sagt sie. „Es gibt dort keine glutenfreien Rationen und keine Triggerwarnung.“
Für sie ist die moderne Gleichstellungspolitik im Militär – etwa die Frage, ob „schwangere Frauen Panzer fahren dürfen“ – ein Perversion des Feminismus. Statt Emanzipation bedeute sie Anpassung an männliche Kriegslogik.
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