Fast drei Jahre nach Beginn der Ukraine-Invasion zeichnet Oberst Markus Reisner ein düsteres Bild: „Lassen Sie mich eines klarstellen: Die Zeit spielt für Russland, während sie der Ukraine davonläuft. Die Ukraine ist dabei, diesen Krieg zu verlieren. Das zeigen die Bilder von der Front eindeutig.“

Während Donald Trumps Sonderbeauftragen für die Ukraine und Russland, Ex-General Keith Kellogg, in den kommenden hundert Tagen Verhandlungen vorantreiben solle, stelle sich die Frage, „ob die Ukraine diese drei Monate überhaupt noch durchhalten kann“, warnte Reisner im Interview mit ZDF und ntv.

„Viele ukrainische Verbände sind stark ausgedünnt“

Man sehe, „dass der Vormarsch der Russen stetig vorangeht. Täglich werden mehrere Quadratkilometer erobert.Besonders im Donbass gibt es den Versuch, bereits über die Stadt Bachmut aus Richtung Westen vorzustoßen. Südlich der Stadt nähert man sich der Oblast-Grenze auf drei bis vier Kilometer.“ Sollte Russland diese Grenze erreichen, „wäre das ein weiterer wichtiger Sieg, den man im Informationsraum verkaufen kann. Das würde die eigene Bevölkerung motivieren und zeigen, dass man auf dem Vormarsch ist“.

Die größte Herausforderung der Ukraine sei die Verfügbarkeit von Soldaten: „Viele Verbände, wie Bataillone mit etwa 450 bis 500 Mann oder Brigaden mit 3.500 bis 4.000 Mann, sind stark ausgedünnt und oft nur zu 40 bis 50 Prozent kampfbereit.“ Hinzu kommt: „Die Front ist extrem weitläufig. Es gibt kleine Stützpunkte mit Zug- oder Kompaniestärke, also 30 bis 80 Soldaten. Dazwischen gibt es große Lücken, die die Russen nutzen, um einzusickern, zu infiltrieren und vorzustoßen. So wird Stück für Stück aus der Verteidigung herausgerissen.“

Die Frontlinie scheint sich kaum zu ändern – doch der Scheint trügt.Institute for the Study of War/Screenshot

Drohnen auf beiden Seiten verlangsamen den Vormarsch

Somit setzte Russland diesen Abnutzungskrieg unerbittlich fort: „Im Westen mag es wirken, als gäbe es ‚im Osten nichts Neues‘, aber tatsächlich schreitet der Vormarsch der Russen Richtung Westen Tag für Tag voran.“ Dass das so langsam geschehe, liege auch am täglichen Einsatz von vielen tausend Drohnen auf beiden Seiten. „Diese Drohnen machen es möglich, genau zu beobachten, was die jeweilige andere Seite tut – es gibt das sogenannte ‚gläserne Gefechtsfeld‘. Dadurch ist es kaum möglich, große Verbände bereitzustellen und mit ihnen ins Manöver zu gehen, da diese bereits in der Bereitstellung bekämpft werden.“

Um einen Angriff zu starten, müssten Panzer zusammengeführt und Formationen gebildet werden. „Wenn dies jedoch bereits im Vorfeld erkannt wird, kann man das nicht umsetzen. Daher sehen wir Angriffe in kleinen Gruppen – übrigens auch bei der Ukraine, die derzeit Gegenangriffe versucht, gerade in der Region Pokrowsk.“

Verheerende Folgen eines Durchbruchs in Pokrowsk

Doch mittlerweile seien die Russen beträchtlich vorangekommen, und nun drohe ein „operativer Durchbruch“, der Panik auf der ukrainischen Seite auslösen könnte: „Wenn man die Front betrachtet, erkennt man, dass die vordersten Linien, die nach den Kämpfen von 2014 noch bestanden, weitgehend verloren sind. Die zweite Linie hat Russland letztes Jahr durchstoßen können. Jetzt sehen wir, dass bei Pokrowsk die dritte Linie ins Visier genommen wird.“ Pokrowsk sei ein wichtiger Stützpunkt, und „wenn diese dritte Linie durchbrochen wird, gibt es nur noch lose Stützpunkte, die sich von Pokrowsk bis nach Dnipro ziehen.“

Pokrowsk ist ein wichtiger Stützpunkt und Logistikknotenpunkt.Institute for the Study of War/Screenshot

Pokrowsk sei ein „wichtiger, funktionierender Logistikknotenpunkt, von dem aus man weit in die Tiefe vorstoßen kann.“ Sollten es die russischen Streitkräfte dort schaffen, „sich aus der Umklammerung durch ukrainische Drohnen zu lösen und Raum zu gewinnen“, könnte das verheerend sein: „Hinter Pokrowsk gibt es fast nur offenes Land, flache Felder und Baumreihen, die die Felder voneinander trennen. Russland könnte hier relativ schnell vorrücken. Es besteht die Befürchtung, dass ein Durchbruch Panik auslösen könnte“.

In Summe wurde eine Million Soldaten verwundet und getötet

Unmittelbar an der Front sehe man ein „Kräfteverhältnis von zirka 700.000 Mann auf russischer Seite zu zirka 400.000 ukrainischen Soldaten“. Laut Schätzungen, die sich auf alle vorhandenen Daten stützen, sind auf beiden Seiten bisher insgesamt eine Million Soldaten ausgefallen. Auf russischer Seite spricht man von zirka 100.000 bis 140.000 getöteten Soldaten und etwa 400.000 Verwundeten. Auf ukrainischer Seite sind es zirka 80.000 bis 100.000 Getötete und ebenfalls etwa 400.000 Verwundete. Die Zahlen sind enorm, und ich habe noch nicht die zivilen Opfer erwähnt“.

Zurzeit halte die Ukraine mit Drohnen noch gegen das russische Militär. Sie „schafft es, durch den Einsatz von Kamikaze-Drohnen die Russen auf Distanz zu halten. Die Ukraine hat ein gutes Lage- und Aufklärungsbild, trotz begrenzter Ressourcen. Durch den gezielten Einsatz von Drohnen kann sie den Russen entscheidende Schlage versetzen. Das führt dazu, dass der langsame Vormarsch der Russen sich manifestiert. Wenn man aber einem Gegner wie Russland gegenübersteht, der offenbar keine große Rücksicht auf eigene Verluste nimmt, wie wir es auch bei nordkoreanischen Soldaten sehen, dann nützt sich diese Fähigkeit der Ukraine allmählich ab. Am Ende kommt die Grammatik des Abnutzungskrieges zum Tragen, bei der die Quantität entscheidend ist und nicht die Qualität der eingesetzten Waffensysteme oder Soldaten.“