Nun werden Mordvorwürfe gegen die Hamas – aus palästinensischer Feder. „Dies ist die bittere Realität: Die Hamas und ihre Al-Sahm-Einheit jagen diejenigen, die nichts weiter suchen als ein Stück Brot.“ Mit diesen drastischen Worten endet ein Leitartikel der palästinensischen Tageszeitung Al-Hayat Al-Jadida, der am 19. Juni veröffentlicht wurde – und nichts weniger enthält als eine offizielle Anklage gegen die Hamas. Die Zeitung gehört zur Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah.

Menschen in Jabalia tragen den Leichnam eines Mannes, der beim Warten auf Hilfsgüter erschossen wurde – aufgenommen am 22. Juni 2025, kurz nachdem Lkw mit humanitärer Hilfe über den Grenzübergang Zikim in den Gazastreifen gelangt waren. APA/AFP/Omar AL-QATTAA

„Todeskommandos“ gegen Hilfesuchende

Laut dem Bericht setzt die Hamas eigens eingerichtete Einheiten namens Al-Sahm („Pfeil“) ein, um Zivilisten davon abzuhalten, Hilfsgüter der von Israel eingerichteten Gaza Humanitarian Foundation (GHF) zu empfangen – insbesondere in Gebieten außerhalb direkter Hamas-Kontrolle. Wer sich dorthin aufmacht, läuft laut Al-Hayat Al-Jadida Gefahr, als „Kollaborateur“ abgestempelt und von den Al-Sahm-Kämpfern erschossen zu werden.

Gaza-Bewohner kehren von einer Hilfsgüter-Ausgabe der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) zurück.APA/AFP/Eyad BABA

Angehörige berichten von Erschießungen

Die Zeitung stützt sich auf Augenzeugenberichte und Social-Media-Posts betroffener Familien. So schreibt Hiba Al-Mishal auf Facebook, ihr Bruder Osama sei auf dem Weg zu einem Hilfszentrum erschossen worden. Ein Bus mit jungen Männern sei von Hamas-Kämpfern gestoppt, die Männer herausgezerrt und angeschossen worden. Schwer Verletzten sei Hilfe verweigert worden. Andere Zivilisten hätten die Verwundeten sogar mit Stöcken und Eisenstangen schlagen müssen. Al-Mishals eindringlicher Appell: „Wir wollen keine Rache, sondern Wahrheit und Gerechtigkeit.“

Zahlreiche Palästinenser versammeln sich bei einer Hilfsausgabe der privat betriebenen GHF nahe dem Flüchtlingslager Nuseirat.APA/AFP/Eyad BABA

Zahlreiche Opfer dokumentiert

Al-Hayat Al-Jadida nennt weitere Namen: Die Familie Shahin aus Deir Al-Balah meldete den Tod ihres Sohnes durch „heimtückische Kugeln“. Die Familie Al-Hilou beklagt den Tod von fünf Angehörigen. Alle Fälle stammen aus dem Zeitraum vom 15. bis 19. Juni und wurden mit konkreten Facebook-Beiträgen belegt.

Keine Prozesse, keine Richter – nur Gewalt

Die Redaktion der Zeitung zeigt sich entsetzt über die Methoden der Hamas: Selbst wenn der Vorwurf der Kollaboration stimmen sollte, gäbe es keinerlei rechtliche Grundlage für Exekutionen ohne Verfahren. Damit breche die Hamas nicht nur humanitäre Prinzipien, sondern zerstöre gezielt den letzten Funken von Rechtstaatlichkeit im Gazastreifen.

Männer stehen am 22. Juni 2025 vor dem Hamad-Krankenhaus in Gaza-Stadt über dem Leichnam eines Mannes, der beim Warten auf humanitäre Hilfe erschossen wurde. APA/AFP/Omar AL-QATTAA

Geheime Einheit mit Telegram-Kanal

Die Al-Sahm-Einheit wurde im November 2024 offiziell zur Bekämpfung oppositioneller Kräfte gegründet – doch laut verschiedenen Telegram-Kanälen und palästinensischen Quellen kommt sie vor allem gegen hungernde Zivilisten zum Einsatz. Dort werden regelmäßig Bilder von „bestraften Verrätern“ gepostet – teils mit verstörenden Aufnahmen von Verwundeten.

Palästinenser tragen Hilfspakete auf der Salah-al-Din-Straße zu einer GHF-Ausgabestelle.APA/AFP/Eyad BABA

Israel pauschal beschuldigt – ohne Beweise

Die Al-Hayat Al-Jadida spart in dem Artikel auch nicht mit einer pauschale Anschuldigung gegen Israel, die allerdings – im Gegensatz zu den Vorwürfen gegen die Hamas – unbelegt bleibt. Es fehlen konkrete Namen, Beweise oder Augenzeugen. Die Zitate wurden vom Middle East Media Research Institute (MEMRI) dokumentiert und in englischer Übersetzung veröffentlicht.