Syrien nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad: Wie es mit dem Land zwischen der Türkei, dem Irak, Jordanien, Israel und dem Libanon weiter geht, weiß Gott allein. Magd, seine Mutter Samar, sein Vater Walid und Schwester Yara, die seit über 25 Jahren in Österreich leben, hatten von ihren Verwandten und Freunden aus Syrien gehört, dass eventuell im März Neuwahlen stattfinden werden. Jetzt kamen Nachrichten von dem neuen Machthaber Ahmed al-Scharaa, dass es bis zu vier Jahren dauert, bis das geschätzt über 23-Millionen-Einwohner-Land eine neue Verfassung und erstmals Wahlen seit dem Sturz des alten Regimes am achten Dezember bekommt.

„Wer hätte das gedacht? Ist sozusagen eine 360-Grad-Drehung zur alten Regierung“, kommentiert der 25-jährige Magd die Neuigkeiten mit sarkastischem Unterton. Der Wiener Lehramtsstudent für Geschichte und Psychologie/Philosophie und seine Familie haben das Endes der 24-jährigen Herrschaft Assads nicht bejubelt. Gegenüber exxpress erklärt er: „Wir Minderheiten hatten Vorteile unter dem Assad-Regime: Wir wurden nicht unterdrückt, nicht verfolgt“.

Trotz Diktatur herrschte in Syrien Religionsfreiheit

Magd und seine Familie sind melkitisch griechisch-katholische Christen. Sie leben mit ihrem Hund in einem Haus am Stadtrand im Osten der österreichischen Hauptstadt.

In Syrien leben jetzt nur mehr etwa 500.000 Christen. Vor dem Krieg, der 2011 ausbrach, waren es noch 1,5 Millionen. Verlässliche Zahlen gibt es jedoch nicht. Ungefähr 15 Prozent der Christen gehören der melkitischen Kirche an, deren Oberhaupt der römisch-katholische Papst ist. Der Großteil der syrischen Christen (47 Prozent) ist griechisch-orthodox.

Vor dem 8. Dezember war Syrien, trotz Diktatur, ein säkularer Staat, in dem Religionsfreiheit herrschte. Der alte Präsident Assad selber gehörte einer Minderheit im Land an: Er ist Alawit. Alawiten sind eine schiitisch-islamische Untergruppe, die etwa 12 Prozent, und damit etwas mehr als die Christen (etwa 7 Prozent), der syrischen Bevölkerung ausmachen. Sie gelten als liberal.

„Christen standen dem Regime positiv gegenüber“

In einem Zimmer des katholischen Frauenordens Caritas Socialis im 9. Wiener Gemeindebezirk steht in einer Ecke ein Rollstuhl und ein Rollator. Sie sind eine Spende an den Verein „Korbgemeinschaft“, der Container mit Hilfsgütern nach Syrien schickt und in der Nähe von Damaskus seit 2020 eine gemeinnützige Bäckerei betreibt. Sie beschäftigt 40 Mitarbeiter und versorgt rund 10.000 Familien mit Brot.

In Österreich wird die Korbgemeinschaft von dem melkitischen Priester Hanna Ghoneim betreut. „Unter Assad hatten alle Bürger die gleichen Rechte und Pflichten. Christen standen dem Regime positiv gegenüber“, bestätigt der 58-jährige Syrer, der vor fast 20 Jahren von der katholischen Kirche nach Österreich gesandt wurde, um hier die melkitischen Katholiken zu betreuen.

Der Priester Hanna Ghoneim in seinem Büro im Gebäude der Caritas Socialis in Wien. Auf dem Bildschirm ist George Ibrahim, der Leiter der Korbgemeinschaftsgruppe in Aleppo, zu sehen.Emanuela Sutter

Der Diktator sei Christen gegenüber sehr wohlwollend gewesen. Christen bekleideten auch Ämter in seiner Regierung. Das sei nicht, „weil er die Christen liebte, sondern weil er den Christen vertraute“, erklärt der Priester. „Weil er gesehen hat, dass sie ihre Heimat lieben und für sie arbeiten. Die Christen sind gebildet und sorgen für gute Bildung im Land. Auch karitativ waren sie immer sehr engagiert“. Die Christen haben eine wichtige Rolle im syrischen Bildungssystem gespielt. Sie gründeten viele Schulen, die von der sozialistischen Baath-Partei unter der Führung Amin al-Hafizs Anfang der 1960er Jahre verstaatlicht wurden.

Laut den Erzählungen von Pater Ghoneim und Magds Familie sind syrische Christen nicht besonders glücklich über den Sturz des Diktators. Wie erklären sie sich die tausenden Demonstranten, die weltweit auf die Straße gingen, um das Ende des Regimes zu feiern?

„Zwei Drittel der Syrer sind Sunniten. Es freut diese Leute, dass jetzt, nach 50 Jahren alawitischer Herrschaft, ein sunnitisches Regime an die Macht kommt“, erklärt Magd. Laut Daten des Nahost-Hilfswerks „Initiative Christlicher Orient“ (ICO) waren vor dem Bürgerkrieg 76 Prozent der in Syrien lebenden Menschen Sunniten.

Wird wieder die Scharia herrschen?

„Unter Assad durfte man nicht in der Öffentlichkeit beten, nicht auf der Straße, nicht in öffentlichen Gebäuden. Mädchen unter 12 Jahren durften kein Kopftuch tragen. Die Sunniten freuen sich, dass jetzt wieder die Scharia eine größere Rolle spielen wird. Das ist schlecht für uns“, sagt Magds Mutter Samar, die in Syrien Wirtschaft studiert hatte. Die Christen haben Angst, dass jetzt, im ehemals säkularen Staat, wieder die Scharia als Gesetzgebung herrschen wird. „Wird Scharia-Law in unserem säkularen Land herrschen oder nicht? Das ist das, was die Christen, und alle Minderheiten, fürchten. Die Drusen, Jesiden, Alawiten, Schiiten“, bekräftigt ihr Sohn Magd.

Ahmed al-Scharaa gibt sich westlich-modern

Der Anführer der islamistischen Rebellenmiliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und neue Machthaber Ahmed al-Scharaa gibt sich bisher moderat. Er kündigte die Auflösung der HTS-Fraktion sowie die der syrischen Geheimdienste an. US-Diplomaten gaben bekannt, dass die Regierung in Washington beschlossen habe, dass auf al-Scharaa ausgesetzte Kopfgeld zu streichen. Die HTS-Miliz hatte Verbindungen zur dschihadistischen Organisation Al-Kaida und wird von den Vereinten Nationen, den USA und der EU bisher als Terrororganisation eingestuft.

Milizenanführer Ahmed al-Scharaa hat seinen Kampfnamen Abu Mohammed al-Dscholani abgelegt und auch seinen Dschihadisten-Turban gegen einen westlichen Anzug eingetauscht.IMAGO/ABACAPRESS

„Alle Christen möchten das Land verlassen. Niemand kann diese Umstände ertragen“, sagt Pater Ghoneim. Christen und andere religiöse Minderheiten haben Angst, dass sie unter dem neuen islamistischen Regime verfolgt würden. „Als ich die Nachricht hörte, dass die Rebellen Damaskus eroberten, war es Mitternacht. Alle Freunde haben mich angerufen. Die erste Reaktion war: Es ist aus mit uns Christen. Die HTS-Front wird uns abschlachten oder vertreiben“, erzählt der Priester, der das Land zuletzt im Oktober besuchte.

„Wann zeigen diese Gruppen ihr wahres Gesicht?“

Dass sich die Islamisten so freundlich zeigten, konnten die Christen vor Ort zunächst nicht glauben. Dann habe sich eine Art Erleichterung eingestellt: Die alte Angst vor dem Geheimdienst al-Assads sei vorbei. „Jetzt kommt aber eine neue Art von Angst. Wir wissen nicht, was in Zukunft passieren wird. Wann zeigen diese Gruppen ihr wahres Gesicht?“, beschreibt Ghoneim die Sorgen vieler syrischer Christen.

Fast täglich erscheinen im Internet neue Videos, die Angriffe syrischer Islamisten auf Minderheiten zeigen. Einen Tag vor Heiligabend wurde in einem Ort bei Hama ein öffentlicher Weihnachtsbaum in Brand gesetzt. In der Nähe der Stadt wurde in der griechisch-orthodoxen Kirche Hagia Sophia vandalisiert. In Maaloula, einer Ortschaft im Südwesten Syriens, in dem das Wallfahrtskloster Mar Thekla steht und bis heute Aramäisch, die Sprache Jesu gesprochen wird, findet eine „ethnische Säuberung“ statt, berichtet der englischsprachige Auslandsfernsehsender „PressTV“. Laut dem Artikel, der sich auf die „Iraqi Christian Foundation“ beruft, zwingen HTS-Islamisten die Christen, ihre Häuser zu räumen und wegzuziehen.

Fast täglich verbreiten sich auf “X” neue Fälle über die Verfolgung von Minderheiten durch das neue islamistische Regime. Am ersten Jänner machte die Nachricht die Runde, dass die HTS-Regierung den Bildungsplan der Schulen ändern wolle. Er solle unter anderem beinhalten, dass „Juden und Christen“ diejenigen seinen “die Gottes Zorn verdient haben, und diejenigen, die in die Irre gegangen sind“.

Trifft hier das Szenario ein, vor dem sich die Christen Syriens fürchten? „Sie denken, es wird zur Stunde der Wahrheit kommen. Das heißt, dass sie verfolgt werden in Zukunft“, teilt der Theologe mit.

Welchen Platz werden Frauen in der syrischen Gesellschaft einnehmen?

Es scheint zurzeit mehr Fragen als Antworten zu geben, was die Zukunft des Landes betrifft. Magd fragt sich: „Wird es das nächste Afghanistan, oder nicht?“. Seine Familie wünscht sich für ihre Heimat, dass sie eine säkulare Regierung bekommt, die Religionsfreiheit in der Verfassung verankert. „Eine Regierung, die keine Religion bevorzugt“, drückt Samar aus. Magds Mutter, die mit ihrem Mann ein Goldschmuckgeschäft in Wien betreibt, fragt sich, welchen Platz Frauen in der syrischen Gesellschaft haben werden. Seitdem sich in den Medien die Nachricht verbreitete, dass die HTS-Übergangsregierung die Absetzung von Richterinnen beantragt, macht sie sich Sorgen um das Schicksal der Frauen.

„Demokratie funktioniert bei uns nicht“

Magd ist skeptisch im Bezug auf demokratische Wahlen in dem Land, das er zuletzt 2022 besuchte. „Es würde mich wundern, wenn es jetzt auf einmal saubere Wahlen gäbe. Nach ungefähr 50 Jahren Diktatur, nach Monaten oder vielleicht Jahren der Scharia-Law, soll auf einmal eine Demokratie entstehen?“, merkt er an.

Auch Priester Ghoneim hat Zweifel. Bei der Frage: „Wünschen sich syrische Christen eine Demokratie?“ zögert der Priester mit einer Antwort. Dann sagt er: „Schauen Sie: Die Sunniten haben die Mehrheit. Demokratie funktioniert bei uns nicht. Die Sunniten haben die Oberhand, die können alles beherrschen, da bleiben wir immer in der Opposition“. Demokratie müsse gut definiert werden. Für Europäer, die die Selbstverständlichkeit von Demokratie quasi mit der Muttermilch aufgesogen haben, ist eines schwer zu verstehen: Die Macht der Religionen und ethnischen Gruppierungen. „Religion spielt eine Rolle, auch die Sitten. Eine westliche Demokratie, im Sinne von: Es gibt zwei Parteien und die Leute wählen mal so, mal so, gibt es bei uns nicht“, erklärt er. Was die Christen wirklich wollen, sei eine Verfassung und ein Parlament, die allen Bürgern die gleichen Rechte garantiert. „Man erwartet aber, dass der Koran in der neuen Verfassung mehr Raum einnehmen wird“, fügt Hanna Ghoneim hinzu.

Orthodoxer Patriarch Johannes X.: „Wir sind keine Gäste in diesem Land“

Magd und Mutter Samar loben in hohen Tönen die Predigt des griechisch-orthodoxen Patriarch Johannes X vom 15. Dezember in Damaskus. Auf der Website des antiochenischen Patriarchats ist sie auf Englisch niedergeschrieben. Das geistliche Oberhaupt der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien sei eines der ersten christlichen Oberhäupter gewesen, der öffentlich angemahnt hatte, dass die neue Regierung auf einen säkularen Staat setzen, in dem jeder Einzelne vor dem Gesetz die gleichen Rechte und Pflichten haben solle – auch die Christen. „Ich habe vom Westen nichts gehört. Ich habe von unserem Papst (Papst Franziskus, Anm. d. Red.) nicht gehört, dass die Christen eben nicht vergessen werden sollen, dass die Christen einen Platz haben müssen“, sagt Samar vorwurfsvoll.

„Wir sind keine Gäste in diesem Land, noch sind wir heute oder gestern in dieses Land gekommen. Wir stammen aus den alten Wurzeln Syriens und sind so alt wie der Jasmin von Damaskus“, schreibt der Patriarchat über die christlichen Bürger. Für europäische Ohren mögen diese Sätze etwas blumig klingen. Doch für die Christen in Syrien steht nichts Geringeres als ihre Heimat auf dem Spiel – und womöglich sogar ihr Leben.