
Ukraine-Frieden in Istanbul: Verhinderte der Westen ihn schon 2022?
Am Donnerstag starten in Istanbul neue Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland – erstmals seit drei Jahren. Damit kehrt eine brisante Frage zurück: Verhinderte der Westen 2022 eine Einigung?

Wolodymyr Selenskyj höchstpersönlich wird diesmal nach Istanbul reisen. Zum ersten Mal seit drei Jahren finden wieder direkte Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland statt. Offiziell ist die Türkei Gastgeberin – doch entscheidend für die neue Verhandlungsrunde war Trump. Der US-Präsident drängte frühzeitig auf neue Gespräche – auch gegen den Widerstand mehrerer EU-Staaten.
Doch eine alte Frage sorgt bis heute für Zündstoff: Warum scheiterten die Verhandlungen 2022? Manche sehen die Schuld bei den USA und europäischen Ländern. Eine Auswertung aller Quellen zeigt: Über die Verantwortung für das Scheitern wird bis heute erbittert gestritten. Doch über die damaligen Fortschritte herrscht erstaunlich viel Einigkeit.
Konsens herrscht weitgehend bezüglicher folgender Punkte:
1. Deutliche Fortschritte in Istanbul
Die Gespräche Ende März 2022 in Istanbul werden von mehreren Beobachtern als der am weitesten fortgeschrittene Friedensversuch seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs bezeichnet. Erstmals seit der Annexion der Krim 2014 waren beide Seiten zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Ein ausgearbeiteter Entwurf lag auf dem Tisch: Die Ukraine sollte auf einen NATO-Beitritt verzichten, sich zur Neutralität verpflichten, die Stationierung ausländischer Truppen untersagen, die Truppenstärke reduzieren – und im Gegenzug internationale Sicherheitsgarantien erhalten. Die Krim-Frage sollte um 15 Jahre vertagt werden. Das bestätigten nicht nur russische, sondern auch westliche und ukrainische Akteure.
„Der Entwurf war der ernsthafteste Versuch, den Krieg zu beenden“, berichtete Foreign Affairs noch im selben Jahr unter Berufung auf US-Beamte. Mevlüt Çavuşoğlu, damals türkischer Außenminister, sagte gegenüber Hurriyet: „Wir hatten ein ausgearbeitetes Dokument, das in der nächsten Verhandlungsrunde beschlossen werden sollte.“
Dawyd Arachamija, ukrainischer Chefunterhändler und Fraktionschef der Präsidentenpartei, erklärte im ukrainischen Fernsehen 1+1: „Sie [die Russen] waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie Finnland einst – Neutralität akzeptieren und versprechen würden, nicht der NATO beizutreten. Tatsächlich war das der Hauptpunkt. Alles andere waren kosmetische und politische ‚Zusätze‘.“
Auch Israels damaliger Premierminister Naftali Bennett, der sich im März 2022 aktiv in die Vermittlung einbrachte, sagte im Rückblick: „Putin hat mir versprochen, Selenskyj nicht zu töten. Er ließ viele Forderungen fallen.“ (YouTube-Interview, Februar 2023).
2. Optimismus und Hoffnung auf ein Gipfeltreffen
Mehrere Verhandler berichten übereinstimmend, dass ein direktes Gipfeltreffen zwischen Selenskyj und Putin geplant war – um offene Fragen wie die Krim und Sicherheitsgarantien auf höchster Ebene zu klären.
„Wir haben eine Flasche Champagner geöffnet. Die Verhandlungen waren zu 90 Prozent abgeschlossen“, meinte Oleksiy Arestowytsch, Selenskyjs damaliger Berater, gegenüber UnHerd. „Der nächste Schritt war ein direktes Treffen zwischen Putin und Selenskyj.“
Auch Bennett bestätigte: „Putin war bereit, den Krieg sofort zu beenden.“ Israelische Beamte sahen laut Axios im März 2022 eine „Entspannung der Positionen auf beiden Seiten“.
Çavuşoğlu sagte in einem TV-Interview: „Wir dachten, der Krieg würde bald enden.“
3. Drei entscheidende Punkte offen
Trotz der Fortschritte fehlte noch eine abschließende Einigung. Drei zentrale Punkte blieben ungeklärt: die maximale Truppenstärke der Ukraine, der Status der Krim sowie die Frage, welche Staaten Sicherheitsgarantien geben – und wie verbindlich diese sein sollten.
Arestowytsch sagte: „Die letzte offene Frage betraf die Truppenstärke – Selenskyj wollte das direkt mit Putin klären.“ Arachamija betonte: „Die Russen wollten unsere Armee auf ein Minimum begrenzen.“ (Ukrainska Pravda) Bennett erklärte: „Einige Fragen wie die Krim sollten auf 10–15 Jahre vertagt werden.“ Putin selbst sagte: „Das Thema der Krim sollte langfristig diskutiert werden.“ (TASS)
4. Keine Sicherheitszusagen des Westens?
Die Ukraine war auf Sicherheitsgarantien des Westens angewiesen – doch es blieb unklar, ob diese bereit waren, solche zu geben.
Victoria Nuland, US-Vizeaußenministerin, erklärte: „Relativ spät im Prozess fragten die Ukrainer nach Rat – und wir entdeckten versteckte Einschränkungen im Text.“ (Foreign Affairs) Naftali Bennett sagte gegenüber Channel 12: „Es war nicht klar, ob der Westen bereit war, echte Sicherheitsgarantien zu geben.“
5. Strategiewechsel im Westen
Ab April 2022 änderte sich die Rhetorik westlicher Führer: Nun ging es zunehmend um die militärische Schwächung Russlands. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte: „Wir wollen, dass Russland so geschwächt ist, dass es so etwas nicht noch einmal tun kann.“ (The Guardian)
Boris Johnson erklärte: „Man kann mit einem Krokodil nicht verhandeln, wenn es dein Bein im Maul hat.“ (The Guardian) Çavuşoğlu sagte später im türkischen Fernsehen: „Einige NATO-Staaten wollten, dass der Krieg weitergeht und Russland noch schwächer wird. Das Schicksal der Ukraine ist denen nicht so wichtig.“
6. Unterschiedliche Haltungen im Westen
Während Großbritannien auf Härte setzte, waren Frankreich und Deutschland gesprächsbereit. Die USA agierten zögerlich.
„Macron und Scholz waren offener, aber Johnson wollte kämpfen. Und Biden war mal so, mal so“, sagte Bennett.
7. Butscha als Wendepunkt
Die Massaker von Butscha veränderten die Dynamik. Selenskyj war „völlig verändert“, sagte Arestowytsch. „Danach waren Verhandlungen mit Putin für ihn unvorstellbar.“
Çavuşoğlu räumte ein: „Die Bilder aus Butscha veränderten die Haltung vieler NATO-Partner.“ (CNN Türk)
8. Komplexe Ursachen
Die meisten Quellen führen das Scheitern auf eine Kombination mehrerer Faktoren zurück: das Massaker von Butscha, eine veränderte Strategie des Westens, ungeklärte Vertragsfragen und gegenseitiges Misstrauen. Naftali Bennett machte klar: „Die Dynamik kippte. Es war nicht ein einzelner Grund, sondern viele.“
In den genannten acht Punkten besteht weitgehend Konsens – sie werden von verschiedenen Beteiligten und Beobachtern übereinstimmend beschrieben und sind teils auch durch weitere Quellen belegt.
Bei anderen Aspekten hingegen gehen die Einschätzungen deutlich auseinander:
1. War ein Friedensschluss wirklich greifbar?
Russland, Bennett und Arestowytsch sagen: Ja – man stand kurz vor einer Einigung. Die Ukraine und die USA widersprechen: Auf dem Tisch lag lediglich ein unverbindlicher Entwurf.
„Wir hatten alles fast fertig. Nur ein Detail war offen“, sagt Oleksiy Arestowytsch. „Alles war paraphiert – dann wurde es in den Papierkorb geworfen“, behauptete Wladimir Putin gegenüber Russia Today.
Der damalige ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wies das energisch zurück: „Nichts war unterschriftsreif. Das ist russische Propaganda“ (Ukrainska Pravda). Auch US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland bestätigte: „Es war nur ein Protokoll der Absicht, kein Vertrag“ (Foreign Affairs).
2. Hatte Boris Johnson Einfluss?
Am 9. April 2022 reiste der damalige britische Premier überraschend nach Kiew. Laut mehreren, auch ukrainischen Quellen, riet er Selenskyj davon ab, ein Abkommen mit Putin zu schließen. „Johnson sagte: Wir unterzeichnen nichts, wir kämpfen einfach weiter“, erzählte der ukrainische Chefunterhändler Dawyd Arachamija (Ukrainska Pravda).
Ex-Berater Arestowytsch ist vorsichtiger: „Nur Johnson und Selenskyj wissen es genau.“ Präsident Selenskyj selbst dementierte später: „Er hat nichts mit unserer Entscheidung zu tun“ (The Economist).
3. Blockierte der Westen eine Einigung?
Naftali Bennett meint: Ja – der Westen entschied sich bewusst gegen Verhandlungen. Victoria Nuland widerspricht: Die Entscheidung lag allein bei der Ukraine. Auch Selenskyj und sein Außenminister bekräftigten das mehrfach.
Fakt ist jedoch: Ohne grünes Licht ihrer Schutzmächte konnte die Ukraine kein bindendes Abkommen schließen.
Der Sicherheitsexperte Mark Episkopos betont: „Die Ukraine hätte es schwer gehabt, einen Deal gegen den Rat ihrer wichtigsten Unterstützer zu unterzeichnen“ (Responsible Statecraft).
4. War Russland wirklich kompromissbereit?
Der Kreml behauptet: Ja. Kiew und Washington widersprechen. Russland habe Maximalforderungen hinter verschlüsselten Formulierungen versteckt. „Sie wollten die Ukraine abrüsten – das stand im Kleingedruckten“, sagt Victoria Nuland (Foreign Affairs).
Lektionen für den Westen
Zahlreiche Faktoren führten damals zum Scheitern. Doch eines ist unbestritten: Die westlichen NATO-Staaten änderten 2022 ihre Strategie. Nicht mehr nur die Verteidigung der Ukraine stand im Vordergrund – sondern das Ziel, Russland militärisch zu schwächen.
Gleichzeitig war nie geplant, Russland vollständig aus allen besetzten Gebieten zu vertreiben. Der ehemalige CIA-Einsatzleiter Ralph Goff sagte kürzlich gegenüber The Times, die USA hätten der Ukraine aus Angst vor einem Atomkrieg bewusst nicht die Waffen gegeben, die für eine vollständige Rückeroberung nötig gewesen wären. Das Ergebnis: Die Strategie, Russland „auszubluten“, ist gescheitert.
Im Rückblick muss man sagen: Bei der Invasion übernahm sich Russland – danach aber der Westen. Er unterschätzte Moskaus Ressourcen, seine Durchhaltefähigkeit und die Unterstützung aus dem globalen Süden. Der Preis: Über eine Million Soldaten gelten heute laut internen NATO-Zahlen als „ausgefallen“ – etwa ein Drittel davon tot, zwei Drittel verwundet, gefangen oder vermisst.
Wenn am Donnerstag in Istanbul ein neues Kapitel aufgeschlagen wird, täte der Westen gut daran, sich ein Ziel zu setzen, das er auch wirklich erreichen will – und erreichen kann.
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