Während Ungarns Premier Viktor Orban weiter gegen einen EU-Beitritt der Ukraine kämpft, fordern nun sechs nordeuropäische Staaten ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren. In einem gemeinsamen Brief an die EU-Kommission verlangen die Außenminister Schwedens, Finnlands, Dänemarks, Lettlands, Litauens und Estlands „konkrete Vorschläge“ zur Beschleunigung des Prozesses.

Herzlicher Empfang in Helsinki: Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) beim finnischen Präsident Alexander Stubb (r.).APA/AFP/Lehtikuva/Heikki Saukkomaa

„Zeit für ambitionierte Entscheidungen“

In dem Brief, der Politico vorliegt, bekennen sich die nordeuropäischen Staaten klar zur EU-Perspektive Kiews. Die Zeit sei reif für „ambitionierte und effektive Entscheidungen“. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen peilt das Jahr 2030 für den Beitritt an, die Nordländer drängen auf konkrete Maßnahmen, um dieses Ziel realistisch zu machen.

„Die Ukraine hat bemerkenswerte Reformfortschritte erzielt“, heißt es im Schreiben. Nun müsse Europa handeln, um den Beitritt zu ermöglichen. Gleichzeitig betonen sie, dass der Erweiterungsprozess „vorhersehbar und leistungsbasiert“ bleiben müsse. Bilaterale Streitigkeiten dürften nicht als Blockadeinstrument missbraucht werden.

Will Brüssel vollendete Tatsachen schaffen bevor der Widerstand wächst? Von der Leyen mit Selenskyj.GETTYIMAGES/NurPhoto

Orban blockiert weiter

Die Botschaft richtet sich direkt an Viktor Orban: Der ungarische Premier ist der schärfste Gegner eines ukrainischen EU-Beitritts. Ungarische Diplomaten blockieren in Brüssel wiederholt Gespräche, die Kiews Institutionen stärken sollen.

Jüngst kündigte Orban überdies ein Referendum in Ungarn an, um die Bevölkerung über die EU-Perspektive der Ukraine abstimmen zu lassen. Zusätzlich stellte er der EU eine Liste mit zwölf Forderungen, darunter die klare Botschaft: „Die EU muss eine Union bleiben – aber ohne die Ukraine.“

Orban und Selenskyj reden miteinander – nur meistens haben sie sich nichts Höfliches zu sagen.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE

Ungarn warnt vor horrenden Kosten

Finanzielle Argumente spielen eine Rolle: Der ungarische Minister für europäische Angelegenheiten János Bóka begründete in Brüssel Ungarns strikte Ablehnung eines beschleunigten Verfahren mit unkalkulierbaren Kosten, da die Ukraine wirtschaftlich nicht konkurrenzfähig sei.

Laut dem Experten Péter Siklósi vom Ungarischen Institut für Internationale Angelegenheiten würden die EU-Mitgliedstaaten mit weniger Agrar- und Regionalförderungen rechnen müssen. Die Ukraine verfüge zudem über riesige verminte Flächen, hohe Wiederaufbaukosten und eine der niedrigsten BIP-Pro-Kopf-Raten in Europa. Korruption sei ein weiteres massives Problem. Laut Transparency International wäre die Ukraine im Falle eines Beitritts das korrupteste Land der EU.

Finnland möchte Kiew möglichst rasch in der EU sehen. (Im Bild: Finnlands Außenminister mit Selenskyj)APA/AFP/Lehtikuva/Markku Ulander

Streit um Rechte der ungarischen Minderheit

Neben den finanziellen Bedenken ist für Orban die Lage der ungarischen Minderheit in der Ukraine von zentraler Bedeutung. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó attackierte eine Äußerung seines ukrainischen Amtskollegen Andrii Sybiha, der die Situation der ungarischen Minderheit in Transkarpatien als „künstliches Problem“ bezeichnete.

Szijjártó warf mehreren EU-Staaten vor, die Ukraine blind zu unterstützen, anstatt sich für Minderheitenrechte einzusetzen. Besonders empört zeigte er sich über seine deutschen und österreichischen Amtskollegen, die versuchten, ihn von Fortschritten in diesem Bereich zu überzeugen. Ohne eine Wiederherstellung der Rechte der ungarischen Minderheit werde Ungarn den Beitritt nicht unterstützen. „Die Ukraine braucht unsere Zustimmung – nicht umgekehrt“, stellte Szijjártó klar.

Orban kritisiert auch die Lage der ungarischen Minderheit in der Ukraine.APA/AFP/Ferenc ISZA

Auch andere EU-Staaten sind skeptisch

Viele EU-Staaten befürworten grundsätzlich den Beitritt der Ukraine, teilen aber manche von Ungarns Vorbehalten. Auch sie sehen in der Korruptionsbekämpfung, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Integration sehr große Herausforderungen. Zudem dürfte fraglich sein, ob die EU ihre Strukturen überhaupt so anpassen kann, dass ein Beitritt der Ukraine praktikabel wird.

Für Kiew hat die EU-Mitgliedschaft abseits von wirtschaftlichen Vorteilen vor allem symbolische und strategische Bedeutung: Sie ist ein Anker im Kampf gegen Russland.