Besonders im Fokus: die Stadt Oldham, unweit von Manchester im Nordwesten Englands. Samantha Walker, eine der Grooming-Opfer, die ihre Anonymität aufgegeben hat, sagt gegenüber NIUS: „Es braucht eine nationale Untersuchung auf Bundesebene, die vor Ort in Oldham geführt wird.“ Nur so könnten Prozesse, etwa in Polizeidienststellen, Jugendheimen oder der Justiz, unabhängig aufgeklärt werden, was Opfer rehabilitieren könnte. Kleiner angelegte lokale Untersuchungen bergen hingegen die Gefahr der Vertuschung. Oldham gilt neben Rochdale und Rotherham als eine der Städte, in der es zu den meisten sexuellen Missbrauchsfälle kam, zumeist an minderjährigen Mädchen. Die meisten Täter: pakistanische und bengalische Banden, die beim Missbrauch arbeitsteilig vorgingen.

Ein weiteres Beispiel: Jane, Amelia und Sarah. Die drei Frauen sagten erst vor wenigen Tagen gegenüber der BBC, dass sie von der Labour-Regierung von Keir Starmer erwarte, ihre Stimmen zu hören. Jane und Amelia, die selbst jahrelang von Grooming-Gangs missbraucht wurden, sowie Sarah, deren Sohn im Pflegeheim Opfer sexueller Ausbeutung wurde, appellieren an Premierminister Keir Starmer, sich ihrer Anliegen anzunehmen. Sie kritisieren, dass die Regierung bisher keine landesweite Untersuchung durchführt hat, sondern die Verantwortung den lokalen Behörden überlässt.

Diese Forderungen werden inzwischen massiv auf sozialen Medien verstärkt. Die Filmemacherin und Aktivistin Sammy Woodhouse etwa schrieb erst jüngst: „ Wir bekommen etwas Aufmerksamkeit in den Medien, sie verkünden, sie hätten Überlebende getroffen, reden Scheiße darüber, wie sehr ihnen die Menschen am Herzen liegen, und verschwinden dann, wenn die Medien verschwinden.“ Zuvor hatte die Anführerin der konservativen Partei, Kemi Badenoch, Überlebende getroffen und angehört – und sich in einem Interview mit GB News hinter sie gestellt. Ihre Verlautbarungen aber scheinen nicht weit genug zu gehen; auch das ein Zeichen dafür, wie viel Vertrauen verloren gegangen ist. Und dass Frauenrechtlerinnen wie Woodhouse sich nicht mehr mit Lippenbekenntnissen und Durchhalteparolen zufrieden geben.

emi Badenoch, die Vorsitzende der konservativen Tories, sagte, eine Aufklärung liege ihr als Mutter am Herzen – und nannte die Täter, bezogen auf ihre Herkunft, Primitivlinge.IMAGO/Avalon.red

Ein zentraler Vorwurf der Betroffenen: die bisherigen Maßnahmen der Aufklärung seien oft politisch motiviert, nur halbherzig – und nicht im Sinne der Opfer. „Das ist keine politische Angelegenheit. Es geht um echte Menschen und ihre Geschichten“, so Amelia, eine der von BBC interviewten Frauen. Sarah, deren Sohn nach Jahren des Leidens an den Folgen des Missbrauchs starb, betonte hingegen: „Mein Sohn verdient Gerechtigkeit, auch wenn er nicht mehr hier ist.“ Amelia berichtete gegenüber britischen Medien von den tiefgreifenden Auswirkungen des Missbrauchs auf ihr eigenes Leben: zerbrochene Beziehungen, Verlust des Sorgerechts für ihre Kinder und psychische Erkrankungen. Was die drei Stimmen, die sich in sozialen Medien rasant verbreiteten, gemeinsam haben: die Frage der Aufarbeitung des Grooming-Skandals ist keine des politischen Kalkülks, bei der die eine oder andere Partei nun das Richtige sagen müsse, um damit in der Wählergunst zu steigen – sondern ein reales Trauma.

Keine weiteren Beratungen oder Diskussionen – sondern Handlungen

Bereits 2022 hatte die Greater Manchester Authority einen unabhängigen Bericht zu den Vorkommnissen in Oldham veröffentlicht, der schwerwiegende Versäumnisse der lokalen Polizei und des Stadtrats aufdeckte. Auch in Rotherham wurde das systematische Versagen der Behörden durch die Untersuchung von Prof. Alexis Jay im Jahr 2014 deutlich, die schätzte, dass 1.400 Kinder zwischen 1997 und 2013 Opfer sexueller Ausbeutung wurden. Beim Grooming-Skandal geht es um großflächigen sexuellen Missbrauch durch „Westasiaten“, also vornehmlich Pakistaner und Bengalen, bei der meist minderjährige Mädchen in Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen wurden, bevor es zu Gruppenvergewaltigungen kam. In zahlreichen Fällen ging mit dem sexuellen Missbrauch auch Drogeninduktion, Prostitution und anschließende Tötung einher.

Trotz der erdrückenden Beweise und der 20 Handlungsempfehlungen aus Jays siebenjähriger Untersuchung, darunter die Einrichtung einer nationalen Kinderschutzbehörde und strengere Regelungen für den Umgang mit gefährdeten Kindern, klagen Opfervertreter über nur schleppenden Fortschritt. Prof. Jay selbst warnte vor weiteren nationalen Untersuchungen, da diese lediglich Verzögerungen verursachen könnten. Sie betonte: „Wir brauchen keine weiteren Konsultationen oder Diskussionen. Es ist an der Zeit, die bestehenden Empfehlungen umzusetzen.“

Verrat an der eigenen Bevölkerung?

Die Frage, ob eine neue nationale Untersuchung notwendig ist, wirkt sich inzwischen auch auf die Tagespolitik aus. Während die Labour-Abgeordnete Sarah Champion, die sich seit Jahren für Kinderschutz einsetzt und eine der ersten kritischen Stimmen im Grooming-Skandal war, eine umfassende nationale Untersuchung fordert, lehnen Regierungsvertreter dies bisher ab. Bei einer Abstimmung zur nationalen Aufrbeitung stimmten 364 Abgeordnete dagegen, lediglich 111 befürworteten eine solche Untersuchung. Viele der Bürger Großbritanniens sehen darin einen Verrat an der eigenen Bevölkerung. Konservative und die rechte Reform UK der Regierung vor, das Thema nicht entschlossen genug anzugehen. Die Mehrheit im Parlament argumentiert hingegen, dass die Umsetzung der bestehenden Empfehlungen Vorrang habe.

Die Labour-Abgeordnete Sarah Champion gilt als eine Vorkämpferin für die Aufklärung des systematischen Kindermissbrauchs.IMAGO/ZUMA Press

Die politische Brisanz wird durch kontroverse Aussagen und öffentliche Debatten weiter angeheizt. So hatte der Milliardär Elon Musk auf seiner Plattform X Anfang Januar die britische Regierung für ihre Haltung kritisiert und damit sowohl Zustimmung als auch Empörung ausgelöst. Auch stellte Musk eine Abwahl von Premierminister Keir Starmer zur Debatte – und fragte seine Follower, ob man Großbritannien nicht von seinem Joch befreien müsse. Die ehemalige Polizistin Maggie Oliver, die Missstände in Rochdale aufgedeckt hatte, warnte vor der Politisierung des Themas: „Es geht um das Leben und das Leid der Opfer, nicht um ideologische Grabenkämpfe.“

Ausgerechnet am Mittwoch dann doch die Kehrwende: Labour-Abgeordnete aus Rochdale und Rotherham änderten ihr Votum – sie hatten ursprünglich gegen die nationale Aufarbeitung gestimmt – und teilten mit, eine nationale Untersuchung zu befürworten. Die Aktivistin Samantha Smith schrieb auf: „Stellen Sie sich vor, Sie fordern weniger als eine Woche, nachdem Sie dagegen gestimmt haben, eine nationale Untersuchung und brandmarken diejenigen, die eine solche Untersuchung wollen, als rechtsextreme Islamophobe.“ Sie sei froh, dass die Politiker ihre Meinung jetzt geändert haben. „Aber warum waren sie nicht bereit, das Richtige zu tun, als es darauf ankam?“

Einige vermuten: Weil Labour-Abgeordnete selbst Verfehlungen, Unzulänglichkeiten und Schlampigkeiten zu verheimlichen haben, die an die Öffentlichkeit kämen, wenn der Skandal exponiert aufgearbeitet würde. Andere werfen der eher linken Partei vor, die Vorgänge des Groomings-Skandals jahrelang nicht konsequent verfolgt zu haben. Indes dürfte eine Festnahme in Brighton Kritik an der fehlenden Aufarbeitung durch Labour befeuern: Am Montag war dort der Abgeordnete Ivor Caplin festgenommen worden. Ihm wird vorgeworfen, sich mit einem 15-jährigen Jungen getroffen zu haben, den er zuvor auf Facebook kontaktierte. Die Anti-Pädophilen-Bürgergruppe „Stop Stings“ stellte ihm eine Falle – und Caplin steht nun im Verdacht, Jugendlichen sexuelle Angebote gemacht zu haben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf unserem Partner-Portal NIUS erschienen.