Da die Partei der früheren Linken-Ikone Sahra Wagenknecht (54) in Ostdeutschland besonders viel Anklang findet, könnte sie bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September ein Machtfaktor werden. Dort könnten erstmals Koalitionen getestet werden. Der nächste Halt ist dann die Bundestagswahl. Wagenknecht punktet teils zulasten der AfD, vor allem aber zulasten ihrer früheren Partei Die Linke, die sie im Oktober im Streit verließ. Die kämpft nun nach einem Europaergebnis von unter drei Prozent ernsthaft ums Überleben.

“Das BSW hat eine Leerstelle besetzt: eine links gerichtete Sozialpolitik und eine rechts gerichtete gesellschaftliche Politik”, erklärt der Potsdamer Politikwissenschaftler Jan Philipp Thomeczek, der sich das BSW in mehreren Analysen angeschaut hat. Zum Beispiel streitet das BSW für höhere Renten und mehr Mindestlohn, bremst aber beim Klimaschutz und der Aufnahme von Geflüchteten. Für Deutschland ist diese Mischung neu. Hinzu komme der populistische Ansatz, sagt Thomeczek. Er meint damit Wagenknechts Rhetorik als vermeintliche Anwältin der kleinen Leute gegen die “da oben”. Sie nennt vor allem die Ampel-Parteien wahlweise gefährlich, dumm, verlogen oder heuchlerisch. Im Osten kommt das besonders gut an: Hochrechnungen zufolge kam das BSW in Ostdeutschland auf mehr als 13 Prozent der Stimmen.

Beispiellos ist aus Sicht des Forschers aber die Personalisierung der neuen Partei. “Sahra Wagenknecht kennt jeder, das ist wirklich ungewöhnlich”, sagt Thomeczek. “Sie polarisiert, sie hat viele Kritiker, aber eben auch viele Fans.” Inhaltliche Positionen der Partei bestimmt im Wesentlichen sie – ihr “Gegenprogramm” zur etablierten Politik steht in ihrem Bestseller “Die Selbstgerechten” von 2021. Andere BSW-Spitzenkräfte – darunter die Co-Vorsitzende Amira Mohamed Ali, Generalsekretär Christian Leye oder die Europa-Spitzenkandidaten Fabio De Masi und Thomas Geisel – verblassen hinter ihr. Auf Wahlplakaten zur Europawahl prangte überall die Parteigründerin selbst, obwohl sie gar nicht antrat. Die Gefahr für das BSW: “Sollte sie aus irgendeinem Grund nicht mehr dabei sein, dann wird es die Partei keinesfalls in den Bundestag schaffen”, meint Thomeczek.

Wagenknecht kritisiert USA und NATO und warnt vor Waffenlieferungen an die Ukraine

Nichts mobilisierte im BSW-Wahlkampf so wie das Thema Krieg und Frieden. Das sei ihren Anhängern sehr wichtig, sagt Wagenknecht. “Sie machen sich zu recht große Sorgen, dass aus dem Ukraine-Krieg ein großer europäischer Krieg wird und sie wünschen sich, dass nicht immer nur auf Waffen und die militärische Karte gesetzt wird.” Wagenknecht fordert Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, warnt vor Waffenlieferungen an die Ukraine, streut Zweifel an USA und NATO. Ihren Unterstützern spricht sie damit aus dem Herzen. “Das ist die einzig wählbare Partei”, sagte ein Arzt im Publikum der BSW-Schlusskundgebung in Berlin am Donnerstag. Und seine Begleiterin: “Wir sind so nahe am dritten Weltkrieg wie noch nie.” Beide zeigten sich sicher, dass Putin auch legitime Sicherheitsinteressen verfolge, dass der Westen am Krieg in der Ukraine mit schuld sei und ihn unnötig in die Länge ziehe. Wer nicht AfD wählen will, findet sich mit solchen Positionen nur beim BSW.

Politikwissenschaftler Thomeczek stellt in einer Analyse inhaltlicher Positionen fest, dass die Wagenknecht-Partei am Potenzial der AfD knabbert. Mit der Rechtspartei teilt das BSW nicht nur Positionen zum Ukraine-Krieg und zur Migration, sondern auch die populistische Niedergangsrhetorik und Elitenkritik. Aber: “Unter den etablierten Parteien bieten die Wähler der Linken das größte Potenzial” für das BSW, schließt Thomeczek in dem noch unveröffentlichten Papier. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Es zeige sich, dass das BSW eine bisher vakante Position im deutschen Parteiensystem besetzen könnte und besonders unter bisherigen Wählern der Linken und der AfD beliebt sei, heißt es darin. Nach ersten Analysen zu Wählerwanderungen erhielt das BSW aber auch eine halbe Million Stimmen von früheren SPD-Anhängern und mehr als 400.000 von der Linken.

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