5 Gründe für eine mögliche Überraschung am 29.9.:

1. Zweikampf statt Dreikampf an der Spitze

Die SPÖ hat sich aus dem Rennen um Platz 1 verabschiedet. In allen Umfragen liegt sie abgeschlagen auf Platz 3. Dazu kommen ein werblicher und inhaltlicher Retro-Wahlkampf, ein umstrittener Spitzenkandidat und wenig Geschlossenheit innerhalb der SPÖ.

2. Zuspitzung

In den letzten Tagen wird es immer intensiver um die Frage gehen, wer konkret Bundeskanzler wird: Nehammer oder Kickl? Bei der Frage nach der (fiktiven) Kanzler-Direktwahl liegt Nehammer deutlich vorne und baut diesen Vorsprung auch kontinuierlich aus. Gelingt es der ÖVP, mit der Kanzler-Frage abgewanderte Wähler zurückzuholen, hat Nehammer einen deutlichen Vorteil.

3. Polarisierung

Sollte die FPÖ Erster werden, dann nicht wegen Kickl, sondern trotz Kickl. Kein anderer Politiker polarisiert mehr als er. Auch wenn er „Volkskanzler“ und „Gemeinsam Kanzler“ plakatiert, er ist ein Trennender, kein Verbindender. Das macht ihn als Person für Menschen jenseits des FPÖ-Spektrums schwer wählbar.

4. Taktisches Wählen

Verschiedene Wählergruppen werden sich aus unterschiedlichen Motiven die Frage stellen: wie verhindere ich einen Kanzler Kickl? Das gilt einmal für Menschen in der politischen Mitte und bisherige ÖVP-Wähler. Das gilt auch für pragmatische SPÖ-Wähler, die mit Babler nichts anfangen können und die eine ÖVP/SPÖ-Koalition präferieren, zur Not eben mit einem Kanzler Nehammer. Mitte-rechts-Wähler werden überlegen, wie sie tatsächlich eine Mitte-rechts geführte Regierung bekommen. Das betrifft frühere Sebastian Kurz-Wähler, die jetzt zur FPÖ tendieren, denen aber Kickl als Kanzler dann doch nicht ganz geheuer ist. Die Erfahrungen mit der AfD zeigen, dass eine FPÖ-Stimme für die Regierungsbildung eine verlorene Stimme sein könnte.

5. Das Momentum

Die Themenlandschaft bei dieser Nationalratswahl spricht für die FPÖ, jedenfalls für Mitte-rechts. Die FPÖ hat aber im Laufe des Wahlkampfs wenig Neues gebracht, und die Person Kickl spricht keine neuen Wähler an. Umgekehrt zeigt sich die ÖVP überraschend geschlossen, Bundeskanzler Nehammer souverän und bisher fehlerfrei, und die Daten werden seit der relativ knappen EU-Wahl für die ÖVP schrittweise besser.

Insgesamt geht der Trend hin zu einem sehr knappen Rennen. Und wenn sich die Ansicht durchsetzt, dass eine Wahl keine Zeugnisverteilung für die Vergangenheit ist, sondern eine Entscheidung für die Zukunft, erleben wir möglicherweise einen Wahlabend mit lange ungewissem Ausgang.

Markus Keschmann ist politischer Kampagnenmanager und war in verschiedenen Positionen für die ÖVP tätig.