Die Europäische Union steht heute an der Schwelle einer Selbstverunsicherung. Kooperation unter ihren 27 Mitgliedern erscheint weiterhin als moralischer Wert an sich, obwohl sie längst nicht mehr in erster Linie Solidarität organisiert, sondern moderiert asymmetrisch verteilte Macht. Die Union ist finanziell angespannt und bewegt sich dennoch mit Summen, die sie faktisch nicht besitzt.

Die Blockadehaltung einzelner Mitgliedstaaten beim EU-Gipfel zur Ukraine-Hilfe verdeutlicht diese strukturelle Handlungshemmung. Zugleich verkörpern somit die Visegrád-Staaten – insbesondere Ungarn, die Slowakei und Tschechien – jene paradoxe Dialektik, in der man vom europäischen Projekt lebt, indem man an seiner gemeinsamen Substanz zehrt.

So steht die Union heute wie Don Quijote nach dem Sturz: verwundet, ernüchtert, plötzlich klar über die eigenen Illusionen. Sie weiß, dass sie an dem Versuch, transnationale Ordnung und demokratische Selbstbestimmung zu versöhnen scheitern kann und das ist moralisch erklärbar, politisch aber nicht folgenlos.

Die chaotische Diskussion um die Ukraine-Hilfe in Milliardenhöhe beim letzten EU-Gipfel macht diese strukturelle Spannung erstmals offen und für alle sichtbar. Kredite sichern bedingt das Nötigste in Kiew, kosten aber Glaubwürdigkeit in Brüssel. Recht wird beschworen, während Handlungsfähigkeit schwindet. Europa spricht normativ, handelt nur zögerlich und wundert sich dann über den Vertrauensverlust. Denn zwanghafte Integration hat einen Preis, der ungleich verteilt ist.

“Wir sollten aufhören, so zu tun, als sei die EU eine Win-Win-Situation für jeden einzelnen”, sagte der Politikwissenschaftler Ivan Krastev, der ZEIT vor fast einem Jahrzehnt und fügte hinzu: “Die Frage, was gute oder schlechte europäische Politik wäre, ist ja hinfällig, wenn es niemanden mehr gibt, der sie umsetzen kann.” Man könnte es auch mit Rainer Maria Rilke sagen: “Wer spricht vom Siegen? Überstehen ist alles!”

Handle vorsichtig

Es gibt immer einen Moment der Entzauberung, in dem ein Satz genügt, um eine ganze Ordnung zu beenden, wie sie einst auch Francis Ford Coppola verdichtete. Michael Corleone spricht ihn leise aus. Kein Zorn, keine Drohung: You’re not a wartime consigliere. Kurz erklärt: In Ausnahmesituationen gelten andere Regeln… Was hier scheitert, ist nicht Kompetenz, sondern der Zeitgeist. Alte Regeln tragen nicht mehr – zumindest nicht im Ernstfall. Verfahren verfehlen den Ernstfall, da sie auf Normalität und Konsens, nicht auf politische Ausnahmezustände ausgelegt sind.

Darauf Don Vito Corleones Replik „I told you that it wouldn’t escape his eye“ bedeutet im Kontext nicht bloß, dass etwas bemerkt wird, sondern fungiert als stilles Gebot: „Handle entsprechend vorsichtig.“ Was heute unserer europäischen Paradoxie ähnelt: Stärke die sich selbst fesselt und Schwäche, die Würde behauptet.

Europa kennt diesen Tonfall inzwischen leider auch. Die Union war nie Natur, immer nur Entwurf. Ihre Kühnheit bestand darin, Macht einzurahmen, bis jetzt weniger auszuüben. Doch je dichter diese Verfahren wurden, je vollständiger die Harmonisierung, desto deutlicher trat ein anderes Gefühl hervor: dass Integration nicht nur Gewinn ist. Dass sie etwas kostet, das sich nicht mehr kompensieren lässt. Vertrautheit und Selbstgewissheit. Symbole gemeinsamer geschichtlicher Erfahrungen, an denen sich Zugehörigkeit immer entzündete, ob real oder imaginiert.

Die Verklärung

Zwischen Ost und West, zwischen Macht und eher bequemer Opportunismus, steht die Union, die zu spät bemerkt hat, dass ihre Sprache nicht mehr gesprochen wird. Und doch hält Europa an ihr fest, weil sie so gut gelernt hat, Konflikte zu verrechtlichen. Sie hat aber nicht gelernt, Verluste zu betrauern. Ihre Sprache ist glatt und sicher diplomatisch. Was nicht benannt werden darf, wirkt im Verborgenen schon weiter. Was nicht ausgesprochen werden darf, kehrt als Ressentiment zurück. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist diese Leerstelle unübersehbar.

Europa denkt primär in Normen, Moskau primär in vollendeten Akten. Francis Bacon schrieb einst: „Wer keine neuen Mittel anwendet, muss mit neuen Übeln rechnen; denn die Zeit selbst ist der größte Neuerer.“ Hier soll Ordnung aus Regeln entstehen, dort aus moralisch oft fragwürdiger Entschlossenheit. Was Brüssel im Regelwerk sucht, ersetzt der Kreml durch den vollendeten Fakt. Sanktionen, Kommissionen, rote Linien – sie sind Symbole moralischer Hygiene, nicht als Instrumente strategischer Stärke.

Europa appelliert, wo andere handeln. Es verteidigt Werte, ohne ihren Preis zu benennen, und fordert Opfer, deren Sinn es nicht mehr zu erklären vermag. Man spricht von Rechtsstaatlichkeit, meidet aber die Frage, was sie tatsächlich kosten darf. So zeigt sich eine Union, deren politische Architektur auf Konvergenz gebaut wurde und die nun im Konflikt an ihre historisch geprägte Entstehungslogik stößt: Gegenüber einem Gegner, der das Recht taktisch verformt oder ignoriert, bleibt sie gefangen in einer Rationalität, die für den Frieden entworfen und im Ernstfall machtlos ist.

Der Traum

Der geschichtliche Irrtum Europas der vergangenen Jahrzehnte lag nicht im Idealismus selbst, sondern in der Annahme, er könne ohne Macht auskommen und somit glaubte, Recht habe eine eigene Schwerkraft und Handel ersetze Gewalt. Es war ein zivilisatorischer Traum, gefährlich naiv in seiner Selbstversicherung.

So gleicht Europas Lage heute der eines Ritters, der eingreift, obwohl er ahnt, dass das Unrecht bleiben wird. Nicht so zu handeln wäre einfacher, sicherer und selbstverständlich bequemer. Aber es wäre auch nur Verrat an sich selbst. Unser Leiden heute ist der Preis dieser Treue.

Der Kontinent braucht Macht wohlüberlegt zu denken, ohne ihr zu verfallen. Weniger naiv zu sein, ohne unbedingt zynisch zu werden. Entschlossener, ohne aber die normative Legitimität einzelner seiner Länder preiszugeben. Vielleicht braucht es dafür keine neue Strategie. Sondern die Motivation einer alten, ikonischen Figur.

Zwischen Michael Corleones kühler Klarheit und Don Quijotes unbeirrtem Glauben spannt sich Europas Gegenwart: zwischen nüchternem Realismus und bereits überlebtem Idealismus.

Die Episode der Windmühlen in Miguel de  Cervantes’ Roman, erschienen 1605 und 1615, ist allgemein bekannt: Trotz aller Warnungen reitet Don Quijote mit gesenkter Lanze gegen das vermeintliche Unrecht an. Nach dem Sturz, verletzt und ernüchtert, zweifelt er nicht an seiner Aufgabe. Sein Leiden entspringt weder Feigheit noch Zufall, sondern dem Entschluss, das Ideal über das eigene Wohl zu stellen. Dieses Leiden verleiht seinem Handeln Würde, doch es bleibt ein individuelles Bekenntnis, kein Modell kollektiver Ordnung.

Für den „quijotischen Kontinent“ kann es daher nur Anstoß zur Selbstprüfung sein, nicht zum politischen Prinzip: Leidenschaft mag Orientierung stiften, doch Europa wird sich letztlich durch vernünftige Gestaltung behaupten müssen, nicht durch heroisches Opfer.

Postheroisch aber normativ

Don  Quijotes Ideal macht seine Figur unvergänglich. Genau darauf spielt „to dream the impossible dream“ an: Das angestrebte Ziel bleibt unerreichbar, aber existenziell notwendig. Don  Quijote wusste, dass sein Streben nicht siegen konnte und machte daraus dennoch eine ethische Verpflichtung.

So auch dieses Europa, das wir meinen…, als postheroischen, aber normativ orientierten Akteur. Sein Dilemma liegt darin, Visionen durch Verfahren zu ersetzen. „The  Impossible  Dream (The Quest)“ ist ein berühmtes Lied aus dem Broadway‑Musical Man of La Mancha von 1965, hierzulande vor allem durch die Verfilmung von 1972 mit Peter O’Toole und Sophia Loren bekannt. Diese Ballade beschreibt keine Flucht, sondern eine Haltung: an einem höheren Maßstab festzuhalten, obwohl man weiß, dass er kaum zu erreichen ist. Nicht um zu siegen, sondern um die eigene Integrität zu wahren. Nicht der Sieg, sondern die gewählte Richtung schafft politischen Sinn.