Alex Todericiu: Panikmache sucht Kuss
„Duldet mutig, Millionen!
Duldet für die bessre Welt!
Droben überm Sternenzelt
Wird ein lieber Vater wohnen.“
Friedrich Schiller, „An die Freude“ (1785)
Die Lasten und Illusionen des historischen Übergangs entziehen sich dem Blick der Gegenwart. Erst die Zeit zeigt, ob unsere Gewissheiten Bestand hatten oder nur Täuschungen waren. Denn im Moment des Geschehens handeln wir selten aus Vernunft, sondern aus den stürmischen Tiefen des Affekts: getragen von Sympathie und Abneigung, von der blendenden Kraft der Ideologien, von tief menschlichem Eigennutz und wahrscheinlich auch von jenem blinden Hass, der still alles verzehrt, selbst die Erinnerung an das Gute.
Zwei Männer, übereinandergelagert wie Macht und Wille. In Jenseits von Gut und Böse erklärt Nietzsche, dass es keinen anderen Urtrieb gibt als den Willen zur Macht. Beide tragen dunkle Anzüge. Der obere lächelt sacht, seine Hände ruhen schwer auf den Schultern des unteren. Dieser blickt mit finsterer Konzentration und führt das Messer, mit dem Europa tranchiert wird. Auf dem Tisch liegt unser Kontinent wie ein Kuchen, darauf eine kleine, verblasste aber noch farbige EU-Fahne – zur stummen Staffage geworden.
Die Spiegel-Ausgabe Nr. 51 vom 11. Dezember 2025 trägt dazu den Titel: „Wie Trump und Putin Europa angreifen: Zwei Schurken, ein Ziel“. Das Coverbild, das von Schwarz dominiert wird, erzählt weniger über den Zustand der Politik als über den der Wahrnehmung. Die eigentliche Pointe liegt womöglich darin, wie Inszenierungen heute selbst zur Waffe werden und Panik einüben.
Denn unser Europa lebt heute nicht im Ausnahmezustand, sondern eher im Echo davon. Europa ist für viele nicht am Rand. Es ist schon darüber hinaus, eher so gut wie abgelegt. Wie etwas, das man zu lange festgehalten hat und nun vorsichtig beiseiteschiebt, ohne genau zu wissen, weshalb.
Europahymne
Manchmal klingt selbst Vertrautes fremd. Die Neunte zum Beispiel. Sie ist noch da, sie wird oft gespielt, sie gehört noch dazu. Aber sie klingt anders, wenn man sie zu oft als Hintergrund benutzt. Die „Ode an die Freude“ wird dann nicht mehr empfunden, sondern nur gehört. Ein Symbol ohne Spannung. Ein tiefes Versprechen, das nicht mehr erschüttert, es begleitet halt. Wie bekannt, wird die Europahymne offiziell nur instrumental gespielt und basiert auf dem Finalsatz von Beethovens 9. Sinfonie.
Wenn alles immer nur „historisch entscheidend“ ist, verliert am Ende nichts mehr seine wahre Schwere. Diese Bedeutungsinflation zerfrisst das emotionale Gleichgewicht der politischen Öffentlichkeit. Die europäische Idee ruhte einst auf Nüchternheit, auf Verfahren und Kompromiss. Heute herrscht das Rhetorische dissonant über eine einst nuancierte, melodische Politik.
Entdramatisierung adé
Der Alarm läuft noch. Er läuft immer. Hat keinen Anfang mehr und kein Ende. Nur Dauer. Früher bedeutete Alarm noch Gefahr. Etwas Konkretes. Etwas, das Handeln verlangte. Heute bedeutet er Gewohnheit, nur eine vertraute Form der Überforderung. Man nimmt sie zur Kenntnis. Dabei wollte die Europäische Union als Konstrukt einmal genau das verhindern. Sie war als Gegenentwurf gedacht, um nach dem Krieg den Frieden aufzubauen. Ein Friedensprojekt der Entdramatisierung. Verfahren statt Erlösung. Wohlüberlegte Langsamkeit, als Tugend. Die Union der Europäer sollte uns beruhigen. 2025 wirkt diese Erinnerung seltsam fern.
Inflation der Bedeutung
Alles ist dringend, entscheidender als je zuvor. Jede Wahl wird zum Wendepunkt, jede Verzögerung zum Omen des Zerfalls. Nichts ist mehr gewöhnlich, alles Übergang. Wenn jedes Jetzt zählt, verliert die Zeit ihr Gewicht – und die Inflation der Bedeutung entwertet genau das, was sie zu schützen vorgibt.
Panikmache ist längst kein Ausrutscher mehr. Sie ersetzt Einordnung durch Dringlichkeit, Zweifel durch übersteigerte Moral. Selbst Angst wird als Verantwortung verkauft – als vermeintlich notwendiges Mittel in ernsten Zeiten. Wer nicht alarmiert ist, gilt als naiv; wer relativiert, als gefährlich; wer schweigt, als verdächtig.
Loyalität klingt so nur noch rhetorisch. So entsteht eine neue politische Sprache, die keine Ruhe mehr kennt, weil sie Ruhe mit Gleichgültigkeit oder Verrat verwechselt.
Der unsichere Europäer
Der Europäer ist zurückhaltend geworden: digital präsent, klickt noch oft genug, wählt hin und wieder und erwartet wenig, als kollektiver Habitus eines müden, heterogenen Kontinents.
Europa selbst spricht und spricht und verliert sich darin leise selbst. Es wiederholt, was auf dem Spiel steht: Klima, Demokratie, Frieden, Europa selbst. Als ob Wiederholung Glaubwürdigkeit schafft, Vertrauen durch bloße und laute Stärke. Doch gerade diese Beharrlichkeit verrät die tiefe Verunsicherung. Wer sicher ist, bleibt still. Wer vertraut, beschwört nicht. Europa beschwört – und legt damit seine Zerbrechlichkeit bloß.
Es gibt keine Normalität mehr, nur noch Zustände: Übergangszustand, Ausnahmezustand, Kriegszustand. Politik ist kein Raum mehr, in dem gestritten wird, sondern ein gespannter Zustand, der um jeden Preis aufrechterhalten werden muss. Das verändert die Demokratie. Sie wird härter im Ton und gleichzeitig leerer im Inneren. Selbst Zweifel ist gefährlicher als je zuvor.
Überinszenierung
Die Medien begleiten diesen Prozess. Nicht unbedingt aus Bosheit, sondern eher aus Logik. Europa ist kompliziert. Alarm ist einfacher. Der Zerfall klickt oft besser als der Kompromiss, der Abgrund emotionaler als der Alltag.
Die ständige Zuspitzung erzeugt Aufmerksamkeit – jetzt und gleich –, aber kaum Orientierung. Europa erscheint so als „permanenter Notfall“. Doch Notfälle haben keine Zukunft; sie kennen nur Gegenwart – und führen in die Schockstarre.
Die Probleme sind real: Krieg in der Ukraine, anhaltende Teuerung, unkontrollierte Migration, wachsende Intoleranz, schwindendes Vertrauen in den Staat. Nichts davon ist erfunden. Doch ihre beständige Erhebung zum „existenziellen Wendepunkt“ schwächt ihre Schwere. Was unablässig als Weltuntergang erscheint, verliert an Dringlichkeit und macht den Blick frei für stille Skepsis. „Eure Länder gehen den Bach runter“, sagte der US-Präsident im Herbst vor der UNO, als Warnung im Kontext der Migrationspolitik. Aus solcher Überhitzung im Blick auf Europa wächst langsam nur noch Müdigkeit.
Erosion
Europa zerfällt nicht spektakulär wie die Reiche nach Alexander dem Großen; in blutige Erbkämpfe der Getreuen. Es fehlt der dramatische Bruch. Nicht alleine Desinteresse, sondern gar die Ununterscheidbarkeit aller Alarme lässt die gemeinsame Bedeutung schleichend verblassen.
Europa als Union ist Ende 2025 vielleicht weniger ein zerbrochenes als ein überhörtes, ermüdetes Projekt. Gegen diese Müdigkeit braucht es keinen neuen, selbst wohlwollenden Hegemon, der das Vakuum der USA nach dem Ende der Pax Americana in Europa füllt, sondern eine eigene, wertebasierte Gestaltungskraft: die strategische Souveränität seiner einzelnen Nationen. Sonst bleibt von der Union der Europäer nur noch ein geflüstertes Echo eines einst geträumten Ideals.
Noch ist unser Kontinent kein Mosaik von Diadochenstaaten wie nach Alexanders Tod im Jahr 323 v. Chr. Wir teilen weiterhin gemeinsame, friedliche Werte, doch ihr Klang ist leiser geworden. Vielleicht ist das Gegenteil von Panikmache nicht Optimismus, sondern Innehalten – ein Moment der Sammlung, bevor etwas Neues beginnt. Vielleicht geschieht es anderswo, vielleicht ohne uns. Und doch gilt, was Søren Kierkegaard einst sagte: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.
Schon Thukydides lässt Perikles die Demokratie als Ordnung beschreiben, in der die Vielen zählen, nicht die Wenigen. In den frühen Debatten der 90er um eine europäische Verfassung war dieser Gedanke präsent, verschwand jedoch aus dem endgültigen Text. Vielleicht nicht zufällig. Denn Denken heißt, sich dem Reflex zu widersetzen, auch dem zur Panik.
Kontrapunkt als Geste
Zu Weihnachten sollten wir innehalten – als zōon politikon, von Natur aus auf Gemeinschaft und Polis hin angelegt. Nicht als Abschied und nicht als Ritual des Vergessens, sondern als leise Erinnerung an das vielleicht Wertvollste: das Staunen. Denn die Geburt aus der Dunkelheit verbindet. Ein Licht, das einfach da ist; verletzlich und doch beständig.
„Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“ Schillers Worte klingen leise. Sie erinnern daran, dass Musik bleibt, wenn sie aus geteilten Augenblicken wächst und aus dem Vertrauen in ein Licht, das einmal geboren wurde. Seine Ode an die Freude wurde nie zur offiziellen Hymne Europas. Vielleicht braucht Europa wirklich keinen gesungenen Schwur. Vielleicht genügt ein Kontrapunkt: eine Gegenstimme, ein Kuss, der verbindet, ohne zu beschwören. Und vielleicht ist dieser Kuss nichts anderes als ein Innehalten als Fähigkeit zur Stille im Gespräch, eine Antwort auf den Lärm der Zeit.
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