Bernhard Heinzlmaier: Kann Österreichs Kultur der Gelassenheit gegen Grün-Totalitarismus immunisieren?
Wenn man in Deutschland lebt, dann weiß man gerade in Zeiten der Hysterisierung der Politik Österreich zu schätzen. Denn in Österreich wird tatsächlich nichts so heiß gegessen, wie gekocht. Selbst die schärfsten Kontrahenten gehen nach den brutalsten verbalen Schlammschlachten gemeinsam in die Cafeteria des Parlaments auf ein Gläschen Grünen Veltliner oder verlassen, tief ins vertraute freundschaftliche Gespräch versunken, das TV-Studio. Die wütenden politischen Auseinandersetzungen über Zuwanderung, Klimawandel oder die ausufernde Kriminalität in den No-Go-Areas der Stadt Wien sind lediglich gut inszenierte Auftragsarbeiten. Ganz wie im Mafiamilieu, bittet man den Gegner nach getanem Verbalmassaker, die Sache nicht persönlich zu nehmen, man müsse, wenn es um die vitalen Interessen einer Beutegemeinschaft geht, zumindest vordergründig unerbittlich sein. Die Paten an der Spitze der politischen Syndikate wollen sehen, dass ihr Fußvolk bereit ist, für die Parteigemeinschaft alles zu geben.
Während also die politische Kultur in Österreich dem Stil nach an alte französische Gaunerkomödien wie „Arsène Lupin“ erinnert, alles wird mit einem schelmischen Augenzwinkern getan, regieren in Deutschland Bedingungslosigkeit und verbissener Ernst. Die Deutschen haben das Problem, und das hat in ihrer Geschichte die hässlichsten und grauenhaftesten Ereignisse hervorgebracht, alles mit äußerster Konsequenz auf die Spitze zu treiben. Wenn sie in ein politisches Spiel einsteigen, dann geht es immer um alles oder nichts. Bis zum heutigen Tag ist dort noch eine protestantische Ethik am Werk, die keine Kompromisse zulässt und hypermoralisch das Zeitgeschehen in eine absolut gute und eine absolut böse Seite scheidet, um danach finster entschlossen die totale Ausmerzung des Bösen anzugehen. Das deutsche Denken scheint keine Schattierungen und Nuancen zu kennen. Und wenn es einmal das Böse erkannt zu haben glaubt und die Kreuzzugsmaschine in Gang gesetzt wurde, dann ist es durch nichts und niemanden davon abzubringen, das missionarische Werk bis zur bitteren Vollendung durchzuziehen. Die österreichische Kultur hat im Gegensatz dazu immer die Kunst des Fragments hochgehalten und die Liebe zum Unvollendeten kultiviert. Der Österreicher tendiert zwar dazu, von Emotionen getrieben spontan in die Meinungsschlacht zu ziehen, verliert aber schnell, wenn die ersten Verluste eintreten, die Lust am Kampf und zimmert dann, nur um wieder an den gemütlichen Heurigentisch zurückkehren zu können, übereilt und ohne Sinn und Verstand einen windschiefen Kompromiss zusammen, unter dessen Unvollkommenheit dann Generationen zu leiden haben. Denn es gelingt meistens nie wieder, das Provisorium niederzureißen und etwas Neues an dessen Stelle zu setzen. Dazu ist man einerseits zu wenig ambitioniert und andererseits tut man sich generell schwer damit, etwas Antiquarisches wegzugeben, weil man in rührseliger Nostalgie an ihm hängt.
Diese über Jahrhunderte eingeübte Kultur der auf Dauer gestellten Provisorien, der unaufgeregten Gemütlichkeit und der sentimentalen Nostalgie wird aber seit einiger Zeit von der neuen Bewegung des Wokismus herausgefordert. Vor allem von den Grünen, aber auch von Teilen der einstmals stolzen aber zwischenzeitlich degenerierten Arbeiterbewegung, hat der Wokismus Besitz ergriffen. Er hat aus dem links-grünen Politiksegment eine pietistische Schuld- und Opfergemeinschaft gemacht, die wirklich glaubt und durchsetzen will, was sie sagt und das ohne Rücksicht auf Verluste. Ihr Wahlspruch scheint zu lauten, das Richtige muss sein, auch wenn das ganze Land dafür vor die Hunde geht.
Andreas Babler läuft wie der schwarze Ritter aus den Rittern der Kokosnuss mit gezogenem Schwert durch die Szenerie
Bis zum heutigen Tag haben die Grünen nicht begriffen, dass sie mit den Kommunisten gemeinsam die einzigen auf der politischen Bühne sind, für die alles das todernst ist, was für die anderen ein kunstvolles Geschicklichkeitsspiel um Macht, Einfluss, Ansehen und persönliche Vorteile ist, also eher ein ästhetisches als ein politisches Geschehen. Als Koalitionspartner sind die Grünen deshalb so schwierig, weil sie nicht einsehen wollen, dass es Kompromisse mit politischen Gegnern zum beiderseitigen Vorteil geben muss, weil sonst Verbissenheit und Wut die politische Kultur demolieren. Die Grünen erinnern oft an den österreichischen Fußballspieler Walter Schachner, der seinerzeit bei einem Spiel Österreich gegen Deutschland, bei dem sich beide Seiten auf ein Unentschieden geeinigt hatten, weil so beide in die nächste Runde weiterkamen, als einziger mit vollem Einsatz weiterspielte und um jeden Preis ein Tor schießen wollte, was den beiderseitigen Vorteil augenblicklich zerstört hätte. Wie bei den Grünen weiß man von Schachner bis heute nicht, ob er die Abmachung einfach nicht verstanden hat oder er seinen religiösen Eifer nicht zügeln konnte. Wie bei den Kreuzrittern des Mittelalters hat man bei den Grünen manchmal den Eindruck, dass sie ein vernunftbefreiter fanatischer Eifer auch dann noch weiterkämpfen lässt, wenn alle anderen längst nur mehr ihren Frieden haben wollen. Übrigens ist der aktuelle Parteivorsitzende der SPÖ, Andreas Babler, ein ganz ähnlicher Typ wie Walter Schachner. Während der ÖGB, die SPÖ-Parteigranden und die Landesparteien schon längst mit der ÖVP hinter den Kulissen einen Kompromiss ausgehandelt haben, läuft er weiter wie der schwarze Ritter aus den Rittern der Kokosnuss mit gezogenem Schwert durch die Szenerie und fordert jeden, auf den er trifft, zum Kampf heraus. Ob ihm niemand gesagt hat, dass der Krieg vorbei ist oder er die Situation nicht verstanden hat, weiß man nicht so genau.
Maßlose Übertreibung von "globalen Katastrophen"
Im Jahr 1991 hat die DDR-Dissidentin und Freiheitskämpferin Bärbel Bohley den folgenden denkwürdigen Satz ausgesprochen. „Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen, das wird wiederkommen, glaubt mir.“ Zum Glück kann Bohley das Eintreten ihrer Horrorvision nicht mehr miterleben, aber der DDR-Totalitarismus und seine toxischen gesellschaftlichen Begleiterscheinungen beginnen gerade wieder um sich zu greifen. Wissenschaftlich unterstützt wird der neue Totalitarismus von einer peinlich kriecherischen Soziologie, die die „Anpassung“ zur höchsten Tugend des anständigen Bürgers erklärt. Im Jahr, in dem der dreihundertste Geburtstag von Immanuel Kant gefeiert wird, ist das Bürgerideal nicht mehr das aufgeklärte „Sapere aude“, sondern die seltsam abgeklärte und antiindividualistische Losung „Passt euch an“. Eine ganze Armada von deutschen Gesellschaftswissenschaftlern unter der Führung der grünen Ideologen Armin Nassehi, Philipp Staab und Heinz Bude ist angetreten, um einer reaktionären Restauration das Wort zu reden. Mit Hilfe der geschickten Taktik der maßlosen Übertreibung von „globalen Katastrophen“ wird den Menschen empfohlen, sich ihren weisen links-grünen Führern zu unterwerfen und die Gattungsinteressen über ihre Individualinteressen zu stellen. Im Primitivjargon der Wiener Sozialdemokratie heißt das Ganze dann „Zusammenhalten“ und bedeutet den verantwortungsfreudigen Untergang des Citoyens in einer gestaltlosen Masse. „Passt euch an“, titelt auch das zum links-grünen Tendenzmedium heruntergekommene einstige Zentralorgan der 1968er-Bewegung „Kursbuch“, damals herausgegeben vom großen Hans Magnus Enzensberger. Wo früher groß gedacht und die Befreiung des Einzelnen aus den Fängen der kulturindustriellen Warenästhetik propagiert wurde, wird heute der kleinbürgerliche Reihenhausbewohner, der sich in masochistischer Lust der links-grünen Macht unterwerfen soll, angerufen. Schlimmster „linker“ Demagoge des Grüntotalitarismus ist Heinz Bude, den die linke Monatszeitschrift “Konkret” nur mehr als „Sozialwissenschaftler in permanenter Herrschaftsassistenz“ bezeichnet. Er fordert eine Soziologie, die „Folgebereitschaft“ herstellt, wenn notwendig mit dem Mittel der Angst und die ihre ideologischen Motive unter dem Mäntelchen der objektiven Wissenschaft verbirgt. Und notfalls wird man für die neue Folgsamkeit mittels Zwangsmaßnahmen zu sorgen haben, meint der deutsche Großdenker.
Es tut gut, in einem Land zu leben, in dem der Staat sich zumindest noch formell an das politische Neutralitätsgebot hält
Zwangsmaßnahmen und Meinungsdruck, das sind heute schon die Herrschaftsinstrumente, die eine völlig durchgedrehte hypermoralische linke Kreuzzugspolitik tagtäglich zu Anwendung bringt, um die Menschen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. So werden 16-jährige Schülerinnen von der Polizei aus der Schule abgeholt, weil sie ein regierungskritisches Video bei TikTok eingestellt haben, die deutsche Fußballnationalmannschaft wird in ein pinkes LGBTQ-Trikot gezwungen, die Nummer 4 der Trikotserie wurde gerade eingezogen, weil die abgebildete Zahl an eine „Nazi-Rune“ erinnert und die Marke „Helly Hansen“ wird unter Naziverdacht gestellt, weil sie das Logo HH auf ihre Klamotten aufdruckt. Gleichzeitig finanziert der deutsche Staat „zivilgesellschaftliche Organisationen“, die dazu aufrufen, Bürger zu melden, die an die biologischen Geschlechter glauben und den Gendersprech verweigern. Und an der Spitze des gesamten Wahnsinns steht ein Chef des Verfassungsschutzes, der nicht nur seinen Vorgänger bespitzeln lässt, sondern auch Bürger verfolgt, die durch regierungskritische Äußerungen den Staat „delegitimieren“. Und der Verfassungsschutz bekämpft nun auch „gefährliche“ Meinungsäußerungen, die „unterhalb der strafrechtlichen Grenzen“ angesiedelt sind. Angesichts des beschriebenen bürger- und freiheitsfeindlichen Irrsinns tut es gut, in einem Land zu leben, in dem der Staat sich zumindest noch formell an das politische Neutralitätsgebot hält und in dem man sich als Ministerin nur vom linksradikalen Verband Sozialistischer Studenten mit fäkalen Sprachpartikeln bewerfen lassen muss und nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, wenn man eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer österreichischen Leitkultur einsetzt. Möge der Weltgeist Österreich vor dem Furor schützen, mit dem eine puritanische deutsche links-grüne Erweckungsbewegung die europäische Aufklärung unter einem Haufen elitärer und verstiegener menschenfeindlicher Lebensweisheiten zu ersticken versucht.
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