Kolumne Rudolf Öller: Wir waren frei
Der politische Kampfbegriff „to be woke“ heißt so viel wie Wachsamkeit üben gegenüber allem, was nach Ungerechtigkeit, Rassismus usw. aussieht. Madness heißt bekanntlich Wahnsinn oder Idiotie. Kombiniert man beide Begriffe, kommt „Wokeness“ heraus, ein Wort, das ironischerweise nach Wellness klingt.
„Das Suchen in Bücherschränken, in CD- oder DVD-Sammlungen kann Ihre seelische Gesundheit gefährden!“ Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser Slogan irgendwo in irgendeiner Form auftauchen wird, denn viele von uns – vor allem Ältere – haben zu Hause gefährliche Bücher und Datenträger mit unheilvollen Liedern und Filmen lagern. In Zeiten der Wokeness sollten wir alle bußfertig in uns gehen und zuerst unsere Wohnungen und in der Folge unsere Seelen von sündigen Dingen reinigen. Dieser Gedanke erinnert an die Handlung des großartigen Romans „Fahrenheit 451“. Der Titel bezieht sich auf die Temperatur, bei der Papier zu brennen beginnt. Die dystopische Geschichte handelt in einem Land, in dem der Besitz und das Lesen von Büchern bei Strafe verboten ist. Aufgabe der staatlichen Feuerwehr ist es, Bücher aufzuspüren und zu verbrennen. Die Hauptfigur der Geschichte ist der Feuerwehrmann Guy Montag, der zu Beginn dem Regime ergeben ist, irgendwann aber heimlich Bücher entwendet und zu Hause versteckt.
Der Ruf nach Verbot von Liedern wie „L’Amour toujours“ ist erst der Anfang. Ältere Bücher, Filme und Musikstücke schreien in unserer Wokenesswelt geradezu nach Verboten.
Das große Fressen
Filme wie „Dirty Harry“, „Das große Fressen“ und „Beim Sterben ist jeder der Erste“ könnten heute nicht mehr gedreht werden. In „Dirty Harry“ (Regie: Don Siegel) spielt Clint Eastwood einen Polizistenmacho so unübertrefflich politisch inkorrekt, dass Wokeness-Typen spätestens bei der legendären „Make my day“-Szene aufschreien.
Im Film „Das große Fressen“ (Regie: Marco Ferreri) beschließen vier frustrierte Männer, ihrem Leben ein Ende zu setzen, indem sie sich zu Tode fressen. Mit dabei ist eine dralle Lehrerin, die Gefallen an den lebensmüden Männern findet und ihnen auf dem Weg in den Tod als Geliebte zur Verfügung steht. Politisch inkorrekter geht es nicht mehr.
In dem eher unbekannten Film mit dem missglückten deutschen Titel „Beim Sterben ist jeder der Erste“ (englisch: „Deliverance“, Regie: John Boorman) begeben sich vier Männer auf eine Kanutour auf einem wilden Fluss in den Appalachen. Der Film beginnt mit einem legendären Gitarre-Banjo-Duett, kippt schnell ins Grausame und ist überladen mit inkorrekten Klischees: Kultivierte Stadtmänner treffen auf ungebildete Dorftrottel. Heute könnte es kein Produzent und Regisseur mehr wagen, solch ein Macho-Drama zu veröffentlichen.
Entführung und Mord
Die Rolling Stones sind längst Teil der Musikgeschichte. Trotzdem ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Wokeness-Gemeinde einige Songs auf den Index setzen wird, denn das Frauenbild der „Stones“ ist alles andere als politisch korrekt. In „Honky Tonk Women“ heißt es beispielsweise: „In New York City hab’ ich eine Geschiedene flachgelegt, mit der ich erst mal kämpfen musste. … Sie putzte mir die Nase und dann haute sie mich um.“ Der erwähnte Text ist noch harmlos im Vergleich zu anderen Ergüssen der „Stones“.
Es gab schon vor vier Jahrzehnten Prä-Woke-Maßnahmen, wie etwa die Zensur des Falco-Liedes „Jeanny“ durch deutsche Radiostationen. Der Vorwurf lautete, Falco hätte die Entführung und den Mord an einer Minderjährigen eindeutig zweideutig besungen. Die Zensur hatte zur Folge, dass die Verkaufszahlen des Liedes nach oben schnellten.
Charles Bukowski
Das Lesen von Büchern ist, vor allem bei den jüngeren Generationen, etwas aus der Mode gekommen. Das ist schade, denn Facebook, Instagram und TikTok zusammen sind für das Denkvermögen auf Dauer ähnlich förderlich wie Marihuana. Wer kein Buch mehr in die Hand nimmt, verzichtet auf politisch wunderbar unkorrekte Literatur wie beispielsweise von Charles Bukowski, den Feministinnen so verehren wie der Teufel das Weihwasser.
Das Publikum wehrt sich noch gegen die Formen der Wokeness, was man an den Oscars für den herrlich bösartigen koreanischen Film „Parasite“ erkennen kann. Gleichzeitig wandert Hollywood ins Abseits. Walt Disney Production warnt beispielsweise vor einigen seiner eigenen Filme, weil sie angeblich Gefühle verletzten. Das Publikum dankt durch Flucht vor Disney.
Wir können heute Blu-rays und DVDs mit unkorrekten Filmen noch kaufen und ansehen. Diese Chance sollten wir Unkorrekten nutzen, solange das möglich ist. Wenn eines Tages Filme und Songs nur noch über Internet gestreamt werden können, kann eine europäische Wokeness-Behörde bestimmen, was wir sehen und hören dürfen und was nicht.
Jungen Menschen, die mich fragen, was in meiner Jugend anders war als heute, antworte ich ohne Zögern: „Wir hatten noch keine Mobiltelefone, kein Internet und kein Satellitenfernsehen, aber wir waren frei und nicht dressiert“. Heute sind die schlimmsten Feinde der Freiheit die glücklichen Sklaven, die sich in ihrer Unfreiheit wohl fühlen. Sie sind die Wähler der Parteien, die alles regulieren wollen, von den Büchern über die Filme bis hin zur Sprache und unseren Gedanken.
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