Ralph Schöllhammer: Europas geopolitische Fantasiewelt: Zwischen Aufrüstungsillusion und nahöstlicher Zeitbombe
Die Europäische Union manövriert sich in ein strategisches Paradoxon, das historische Dimensionen annimmt. Während Brüssel ein beispielloses Aufrüstungsprogramm verkündet (ein ursprünglich als „ReArm Europe” bezeichnetes und nach vorhersehbarer Empörung in „Readiness 2030″ umbenanntes 800-Milliarden-Euro-Projekt) zerstört sie gleichzeitig systematisch die industriellen und energetischen Grundlagen, ohne die keine Rüstung möglich ist.
Gleichzeitig ignoriert Europa eine noch gefährlichere Entwicklung: Die scheinbare Stabilität im Nahen Osten könnte sich als ebenso trügerisch erweisen.
Das fossile Zeitalter endet nicht, aber der Nahe Osten könnte irrelevant werden
Niemand von uns, auch nicht unsere Kinder, Enkelkinder oder Urenkel werden das Ende des fossilen Zeitalters erleben. Die Welt schwimmt buchstäblich in Öl- und Gasreserven. Venezuela sitzt auf den wahrscheinlich größten nachgewiesenen Reserven weltweit, fördert aber mit Ach und Krach eine Million Barrels pro Tag, hat aber ein nachgewiesenes Potential von vier bis fünf Millionen Barrels pro Tag. Argentiniens Vaca Muerta-Formation verspricht ähnliches. Katar, die USA, Russland, Polen, die Nordsee überall werden neue Quellen entdeckt und erschlossen.
Was könnte dieses kommende Überangebot bedeuten? Einen Kollaps der Ölpreise. Und damit den Zusammenbruch der Wirtschaftsmodelle im Nahen Osten, deren geopolitische Relevanz sich in den letzten hundert Jahren primär aus der Energiefrage entwickelt hat. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, und Katar werden oft als Musterstaaten gehandelt, doch in Wirklichkeit stehen diese auf einem fragilen System: Eine schmale Schicht von Staatsbürgern an der Spitze (in den VAE gerade einmal 20 Prozent der Bevölkerung) und darunter eine importierte Arbeiterklasse von Gastarbeitern, die unter teils Sklaverei ähnlichen Bedingungen schuftet sowie westlichen Expats und Instagram-Influencern. Dieses Modell funktioniert nur, solange der Energiereichtum die obere Schicht finanziell potent und die Region geopolitisch relevant hält.
Die Geschichte lehrt uns dass auf fast jeden Mangel ein Überangebot folgt, und das wird bei den fossilen Brennstoffen nicht anders sein. Wenn die Energiepreise langfristig fallen werden steht der gesamte Nahe Osten vor einer demografischen und wirtschaftlichen Zeitbombe. Das Durchschnittsalter in Gaza liegt zwischen 19 und 21 Jahren; ähnliches gilt für die gesamte Region. Eine Jugendblase, gepaart mit einem Überschuss an jungen Männern ohne Partnerin und bald ohne wirtschaftliche Perspektive. Sollte der wirtschaftliche Niedergang mit einer politischen Krise zusammenfallen, werden sich Millionen auf den Weg machen, und zwar in Richtung Europa.
Während der Nahe Osten somit vor potenziellen Umwälzungen steht, verschärft Europa seine eigene Vulnerabilität durch eine selbstverschuldete Energiekrise. Ausgerechnet in diesem Moment zerstört Europa seine eigene energetische und industrielle Basis. Die EU verbrauchte 2024 rund 38 Exajoule fossiler Brennstoffe, produzierte aber selbst nur fünf. Der Rest muss importiert werden — aus Katar, den USA, Norwegen. Doch statt diese Abhängigkeit zu akzeptieren, belehrt Brüssel seine Energielieferanten mit moralischen Vorschriften.
Im Oktober drohten Katar und die USA gemeinsam mit dem Stopp von Flüssiggaslieferungen, sollte die Corporate Sustainability Due Diligence Directive nicht entschärft werden. Katar liefert 14 Prozent des europäischen LNG — unverzichtbar, solange Europa vollständig von russischem Gas unabhängig werden will. Brüssel knickte erwartungsgemäß ein. Die Episode demonstriert eindrucksvoll: Wer ein globaler Energievasall ist, hat keine Karten im Spiel. Man kann seinem Lieferanten nicht vorschreiben, wie er seine Rohstoffe fördert, wenn man von diesen Rohstoffen existenziell abhängt.
Deutschlands Reaktion offenbart die Verzweiflung: Ab 2026 sollen Industriestrompreise auf fünf Cent pro Kilowattstunde gedeckelt werden — auf Steuerzahlerkosten, wohlgemerkt. Dies, nachdem man mit vollster Begeisterung Kernkraftwerke abschaltete und Kühltürme sprengte. Wenn Wind und Solar das alles hätten ersetzen können, warum braucht es dann staatlich verordnete Strompreise?
Die chinesische Rohstofffalle
Diese energiepolitischen Fehlentscheidungen werden durch eine weitere kritische Abhängigkeit ergänzt, die Europas Verteidigungsfähigkeit direkt bedroht: Die noch gravierendere Abhängigkeit von chinesischen Seltenen Erden beziehungsweise der Verarbeitung von diesen. China kontrolliert 90 Prozent der weltweiten Verarbeitungskapazitäten dieser für Waffensysteme unerlässlichen Rohstoffe. Ein F-35-Kampfjet benötigt über 400 Kilogramm davon. Im April 2025 führte Peking drastische Exportbeschränkungen ein; im Oktober weitete China die Kontrollen auf zwölf der 17 Seltenen Erden und lässt sich seit dem jede Exportlizenz nur mit Mühe abringen. Das hat nichts mit Freihandel und Globalisierung zu tun, sondern mit knallhartem geopolitischen Kalkül.
Anfang November kam eine vorübergehende Entspannung: China suspendierte die Exportkontrollen für ein Jahr. Doch diese Gnadenfrist ist keine Großzügigkeit, sondern eine Warnung. Europa hat zwölf Monate Zeit, um Alternativen zu finden. Die (nach ReArm und Readiness wieder sehr kreativ benannte) „RESourceEU”-Initiative aus Brüssel soll helfen, doch solange Europa nicht von Green-Deal Illusionen ablässt, werden diese Initiativen nur wenig Wirkung entfalten.
Budgets sind keine Waffen
Neben diesen Rohstoff- und Energieproblemen untergräbt Europa auch seine industrielle Stärke, was die geplanten Aufrüstungsambitionen weiter illusorisch macht. Europas industrielle Kapazität ist im Zerfall begriffen. ThyssenKrupp senkt die Stahlproduktion von 11,5 auf 8,7 Millionen Tonnen und plant in den nächsten Jahren bis zu 11.000 Stellen abzubauen. ArcelorMittal Polen stellte einen Hochofen still; Acciaierie d’Italia schloss seinen letzten funktionierenden Hochofen. Die Gründe: rekordhohe Energiepreise, günstigere Importe aus Asien und regulatorische Bürden.
Doch Brüssel verkündet dennoch: 381 Milliarden Euro EU-Verteidigungsausgaben für 2025, Deutschland plant einen 500-Milliarden-Fonds. Was die Politik verschweigt: Diese Ausgaben sind keine einmaligen Investitionen. Neue Panzer, Flugzeuge und Ausrüstung müssen erhalten, modernisiert und ersetzt werden und damit begründet sich eine jährlich wiederkehrende finanzielle Verpflichtung, keine Einmalzahlung wie viele Politiker uns aktuell vorgaukeln.
Und selbst wenn das Geld bereitsteht: Budgets sind keine Waffen. Ohne industrielle Basis kann dieses Geld nicht in materielle Kapazität umgewandelt werden. Mehr noch: Wenn der Staat mit geliehenen Milliarden die Rüstungsindustrie überschwemmt, werden Produktionskapazitäten vom zivilen in den militärischen Bereich umgelenkt. Weniger Maschinen, weniger Kugellager, weniger Güter für den zivilen Markt — höhere Preise für die Bürger. Kanonen statt Butter. Die Frage ist, ob die Bevölkerung bereit ist, metaphorisch auf die Butter zu verzichten.
Verwaltungsklasse statt Führung
Das eigentliche Problem ist politischer Natur. Europa wird von einer Verwaltungsklasse regiert, die für das Navigieren innerhalb bürokratischer Strukturen selektiert wurde, nicht für strategisches Denken. Diese Eliten optimieren ihr Verhalten für persönliches Überleben in Institutionen, nicht für europäische Erfolge. Das Resultat: Politik im Widerspruch zur Realität.
Solange diese Realitäten nicht anerkannt werden — die Energieabhängigkeit, die Rohstoffabhängigkeit, der Verlust industrieller Kapazität, die kommende Migrationswelle aus einem wirtschaftlich kollabierenden Nahen Osten — sind alle diese Pläne reine Fantasieprojekte.
Die unvermeidliche Rechnung
Zusammengefasst laufen diese Entwicklungen auf eine unvermeidliche Konfrontation mit der Realität hinaus: Der Nahe Osten verliert an globaler Relevanz, gewinnt aber gleichzeitig an Relevanz für Europa — als Quelle massiver Migrationsströme, sobald die Petro-Wirtschaftsmodelle zusammenbrechen. Und Europa plant eine Aufrüstung, für die weder Energie noch Rohstoffe noch Produktionskapazität existiert.
Die zentrale Frage lautet: Wird Europa diesen Widerspruch rechtzeitig erkennen — oder wird es erst aufwachen, wenn die angekündigten 800 Milliarden Euro in Rüstungsprojekten versickern und gleichzeitig Millionen junger Menschen aus dem Nahen Osten vor der Tür stehen? Wer Politik im Widerspruch zur Realität betreibt, wird von dieser eingeholt.
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