Doch wenn man den Schock beiseitelegt, bleibt eine Diagnose, die viele Europäer insgeheim teilen, aber nur wenige aussprechen: Der Kontinent steht nicht nur vor einer Sicherheitskrise, sondern vor einer existenziellen Bedrohung.

Die Bewertung ist schonungslos. Kontinentaleuropas Anteil am globalen BIP ist von 25 Prozent im Jahr 1990 auf heute 14 Prozent abgestürzt. Diesen Niedergang, führt das Strategiepapier auf nationale und transnationale Regulierungen zurück, die Kreativität und Produktivität untergraben. Doch wirtschaftliche Stagnation, so Washington, ist bloß Symptom tieferliegender Pathologien: „die reale und noch deutlichere Aussicht auf zivilisatorische Auslöschung.” Man hält sich auch hier nicht zurück: Migrationspolitik transformiert den Kontinent. Geburtenraten brechen ein. Zensur erstickt Debatten. Nationale Identitäten lösen sich auf. Die Schlussfolgerung: „Sollten die gegenwärtigen Trends anhalten, wird der Kontinent in 20 Jahren oder weniger nicht wiederzuerkennen sein.” Das ist kein diplomatisches „Business as usual“. Das ist eine fundamentale Neubewertung von Europa und von Amerikas sinkender Bereitschaft, den alten Kontinent weiterhin zu subventionieren.

Die neue transatlantische Abmachung

Beim NATO-Gipfel in Den Haag im Juni verabschiedete das Bündnis formell das, was das Strategiedokument das „Hague Commitment” nennt: Die Mitgliedsstaaten verpflichteten sich, bis 2035 fünf Prozent des BIP für Verteidigung und Sicherheit auszugeben, davon mindestens 3,5 Prozent für militärische Kernfähigkeiten. Zur Einordnung: Derzeit erfüllen nur 23 der 32 NATO-Mitglieder die Zwei-Prozent-Marke, und viele Europäer halten das neue Ziel für politisch unmöglich.

Doch die Mathematik ist unbarmherzig. Wie kürzlich dargelegt, hätten EU-Mitgliedsstaaten von 2006 bis 2020 einfach den Zwei-Prozent-Standard erfüllt, hätten sie rund 1,1 Billionen Euro zusätzliche Verteidigungsausgaben generiert, wesentlich mehr als der jährliche US-Verteidigungshaushalt. Stattdessen schufen Jahrzehnte der Unterinvestition das, was die Europäische Kommission auf 1,8 Billionen Euro Verteidigungsfähigkeitslücke seit Ende des Kalten Krieges schätzt. Washingtons Botschaft ist klar: Amerika wird nicht länger europäisches Trittbrettfahren finanzieren, während Verbündete „die Kosten ihrer Verteidigung auf amerikanische Steuerzahler abwälzen.” Das Strategiedokument rahmt dies nicht als Aufgabe, sondern als „burden-shifting:” Ein bewusst gewählter Begriff. Die Vereinigten Staaten, so argumentiert es, behalten Kerninteressen daran, zu verhindern, dass „eine feindliche Macht Europa dominiert.” Doch Europa muss „auf eigenen Füßen stehen und als Gruppe verbündeter souveräner Nationen operieren” und „primäre Verantwortung für die eigene Verteidigung” übernehmen.

Das Energieparadoxon

Hier wird es besonders absurd. Wie offizielle Zahlen zeigen, verbraucht die Europäische Union jährlich 38 Exajoule fossiler Brennstoffenergie, produziert aber nur fünf im Inland. Europa ist ein Energievasall, abhängig von ausländischen Lieferanten, während es gleichzeitig diese Lieferanten über Nachhaltigkeitsstandards belehrt. Als Katar drohte, LNG-Lieferungen einzustellen, falls Brüssel seine Corporate Sustainability Due Diligence Directive nicht verwässere, knickte die EU relativ rasch ein. Europa fordert Energieunabhängigkeit, während es Lieferanten bedroht. Es strebt militärische Aufrüstung an, während es von geopolitischen Rivalen für essenzielle Materialien abhängig ist. Es kündigt Verteidigungsausgaben an, während es systematisch die industrielle Kapazität demontiert, die nötig wäre, um Ausgaben in Fähigkeiten umzuwandeln. Diesen Widerspruch hat Niall Ferguson kürzlich auf den Punkt gebracht: Europa finanziert Russlands Kriegswirtschaft indirekt durch Umwege über Zentralasien, während es gleichzeitig Sanktionen verkündet.

Die kulturelle Dimension

Was dieses Strategiedokument von seinen Vorgängern unterscheidet, ist nicht bloß die Betonung auf Lastenteilung – amerikanische Präsidenten beklagen sich seit Jahrzehnten über europäische Verteidigungsausgaben – sondern die Bereitschaft, Europas tiefere Krise zu diagnostizieren. Die Bewertung ist brutal: „Aktivitäten der Europäischen Union und anderer transnationaler Gremien, die politische Freiheit und Souveränität untergraben, Migrationspolitiken, die den Kontinent transformieren und Konflikte schaffen, Zensur der freien Rede und Unterdrückung politischer Opposition, abstürzende Geburtenraten und Verlust nationaler Identitäten und Selbstvertrauens.”

Dieser Abschnitt, welcher aus einem konservativen europäischen Manifest stammen könnte, stellt etwas Beispielloses dar: Eine amerikanische Regierung ergreift explizit Partei für „patriotische europäische Parteien” und stellt sich gegen die Brüsseler Technokratie. Wie ich in einem früheren Video analysiert habe, leben wir in einer Zweiklassengesellschaft, in der jene, die Entscheidungen treffen, sich effektiv von den Konsequenzen ihrer Entscheidungen abgrenzen können.

Man kann keine strategische Autonomie auf zivilisatorischen Selbsthass bauen. In Europa haben wir den Punkt erreicht, an dem Taylor-Swift-Konzerte und Weihnachtsmärkte Antiterror-Operationen erfordern. Die multikulturelle Fantasie ist zu einer tribalen Realität kollabiert, in der ein übergriffiger Staat Konflikte zwischen inkompatiblen Gemeinschaften managt. Niederländische Steuerzahler geben jährlich 17 Milliarden Euro für die Subventionierung von Immigration aus, während fast 50 Prozent der Empfänger unterschiedlicher Sozialleistungen in Österreich und Deutschland Migrationshintergrund haben.

Die Ukraine-Frage

Der Widerspruch wird auch in der Ukraine-Politik explizit. Washington identifiziert „eine zügige Einstellung der Feindseligkeiten” als Kerninteresse. Als im November ein 28-Punkte-Friedensvorschlag der USA auftauchte reagierten europäische Beamte mit Alarm. Der Plan würde von der Ukraine verlangen, erhebliches Territorium abzutreten, ihre Streitkräfte drastisch zu reduzieren und faktisch NATO-Beitrittsambitionen aufzugeben. Europäische Führungspersönlichkeiten fordern Konsultation, während 78 Prozent ihrer militärischen Einkäufe in Drittländer gehen – hauptsächlich zu amerikanischen und südkoreanischen Auftragnehmern. Sie reden über strategische Autonomie, während sie von amerikanischen Satelliten, Nachrichtendiensten, Logistik und Präzisionsmunition abhängen. Das ist keine Partnerschaft unter Gleichen sondern ein Protektorat, das so tut, als ob es ein Bündnis wäre.

Die harte Wahrheit

Washington bietet Europa eine Wahl, keine Garantie. Es wird helfen, ein Europa souveräner Nationen zu verteidigen, die selbstbewusst in ihrer Identität sind und bereit, die Kosten ihrer eigenen Verteidigung zu tragen. Es wird nicht auf unbestimmte Zeit ein zivilisatorisches Projekt subventionieren, das entschlossen scheint, sich durch demografischen Austausch, industriellen Selbstmord via Energiepolitik und politische Lähmung selbst auszulöschen.

Wie bereits früher argumentiert, manövriert sich die Europäische Union in ein strategisches Paradoxon historischen Ausmaßes. Während Brüssel ein beispielloses Aufrüstungsprogramm verkündet, zerstört sie gleichzeitig systematisch die industriellen und energetischen Grundlagen, ohne die keine Rüstung möglich ist.

Die Frage, vor der Europa steht, ist, ob es den politischen Mut besitzt, den Kurs zu ändern: Energiesicherheit durch Atomkraft und heimische Förderung fossiler Brennstoffe wiederherzustellen, anzuerkennen, dass Massenmigration aus vormodernen Kulturen unvermeidbare Konflikte schafft, sofern Neuankömmlinge sich nicht vollständig assimilieren, die industrielle Basis wiederaufzubauen, die für militärische Produktion notwendig ist, und das zivilisatorische Selbstvertrauen wiederzuentdecken, das Europa einst zu einer globalen Kraft machte.

Manche werden diese direkte Sprache als beleidigend bezeichnen. Ich nenne sie überfällige Ehrlichkeit. Europas Energiekrise demonstriert, was passiert, wenn Ideologie die Politik antreibt statt Ingenieure. Das Migrationsdesaster zeigt, was geschieht, wenn Eliten glauben, sie könnten Geister beschwören, die sie nicht kontrollieren können. Die Verteidigungsausgabenlücke offenbart Jahrzehnte der Annahme, dass amerikanischer Schutz unabhängig vom europäischen Trittbrettfahren fortbestehen würde.

Washingtons Strategie bietet den Europäern einen Spiegel. Das Spiegelbild ist unschmeichelhaft, aber zutreffend. Die einzige Frage ist, ob europäische Führungspersönlichkeiten weiterhin ihren Blick abwenden werden – oder sich endlich der Krise stellen, die sie geschaffen haben.