Ralph Schöllhammer: Europas revolutionärer Ausbruch – Warum die EU in vier Jahren verschwunden sein könnte
Der Vergleich mag manchen überzogen erscheinen, aber er ist treffender, als viele wahrhaben wollen: Die Europäische Union ähnelt heute eher dem vorrevolutionären Frankreich als der stabilen, demokratischen Institution, als die sie ihre Befürworter darstellen.
So wie die französische Monarchie sich mit ihrer ruinösen Unterstützung des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges in eine fiskalische Krise manövrierte, die dann in eine politische Katastrophe mündete, droht Europas Ukraine-Politik Kräfte freizusetzen, die das europäische Projekt in seiner heutigen Form grundlegend verändern – oder zerstören – könnten.
Um eines klarzustellen: Das ist keine Wunschvorstellung. Das ist schlicht die objektive Lage, so wie sie sich darstellt.
Die falsche historische Analogie
In den europäischen Medien läuft jede geopolitische Krise durch denselben Filter: Es sind immer „die dreißiger Jahre“, es ist immer „München“, es ist immer „1938“ und „Appeasement“. Diese Analogie ist nicht nur abgenutzt, sie ist grundlegend falsch. Selbst wenn man im Deutungsrahmen des Zweiten Weltkriegs bleibt, muss man eine unbequeme Wahrheit anerkennen: Frankreich und Großbritannien verstanden damals zumindest, dass sie Zeit brauchten – Zeit zum Aufrüsten, zum wirtschaftlichen Umbau, zur Mobilisierung –, bevor sie Deutschland frontal entgegentreten konnten. Ob diese Entscheidung richtig war, ist eine andere Frage. Aber sie verstanden den Zusammenhang von militärischer Fähigkeit und ökonomischer Realität.
Und man muss noch eine zweite Wahrheit aussprechen: 1945 wurden nicht alle „befreit“. Fragt man die Menschen in Polen, Tschechien oder Ungarn, bekommt man eine etwas andere Geschichte der sowjetischen „Befreiung“ erzählt. Das ist relevant, weil in der aktuellen Debatte ständig der Satz auftaucht, ein Aggressor dürfe „niemals belohnt“ werden. Moralisch klingt das einleuchtend, historisch ist es Unsinn. Aggressoren sind in der Geschichte immer wieder „belohnt“ worden, oft angeblich im Namen des Friedens.
Wenn Preußen 1871 Frankreich besiegt und danach Elsass-Lothringen bekommt – war das keine Belohnung? Als Friedrich der Große Schlesien von Österreich eroberte – wurde er nicht belohnt? So läuft internationale Politik: Macht ist nicht die einzige, aber die entscheidende Währung. Daran hat sich nichts geändert.
Die revolutionäre Parallele
Die französische Monarchie ruinierte ihre Staatsfinanzen, um die amerikanischen Revolutionäre zu unterstützen, in der Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile, die nie eintraten. Am Ende musste man die Generalstände einberufen, und aus einer fiskalischen Krise wurde eine politische Krise, die die Monarchie hinwegfegte.
Heute sehen wir innerhalb des EU-Rahmens, dass Länder wie Finnland wegen überdehnter Haushalte – verursacht durch ihre Ukraine-Politik – in Brüssel ins Visier geraten. Ausgerechnet Finnland, dessen damalige Premierministerin Sanna Marin mit großer Pose erklärte, der Krieg werde damit enden, dass Russland die Ukraine vollständig verlasse. Man reibt sich die Augen ob einer derart idealistischen, um nicht zu sagen: realitätsfernen Haltung.
Papier ist sehr geduldig. Man kann großartige Friedenspläne, 28-Punkte-Programme und ähnliche Konstrukte formulieren. Die Frage ist: Lässt sich das politisch und militärisch tatsächlich umsetzen? Wenn Großbritannien und Frankreich nun „mindestens 20.000“ Friedenstruppen in die Ukraine entsenden wollen, muss man fragen: Glaubt wirklich jemand, dass die britische Öffentlichkeit derzeit mehr Sorge um die Donbass-Front hat als um die eigenen Grenzen? Frankreich ist ein Land, in dem es nahezu unmöglich ist, das Rentenalter um ein oder zwei Jahre anzuheben, um den Wohlfahrtsstaat zu retten. Aber dieselbe Bevölkerung soll nun bereit sein, für eine neue Ostfront zu sterben?
Der Abnutzungskrieg, den niemand ehrlich benennen will
In der Ukraine erleben wir einen klassischen Abnutzungskrieg. Solche Kriege gewinnt in aller Regel derjenige, der mehr produzieren kann. Wenn man sich Munitionsproduktion, Stahl, Drohnen und all die Komponenten anschaut, die für moderne Kriegsführung entscheidend sind, dann übertreffen die kombinierten Kapazitäten Russlands, Chinas und in kleinerem Maßstab Irans schon jetzt die der NATO und der Ukraine.
Das bedeutet: In der derzeitigen Konstellation hat Moskau mehr Hebel in der Hand als der Westen. Wenn Russland unter diesen Bedingungen einem Friedensschluss zustimmt, dann wird es ein Frieden sein, der viele russische Forderungen widerspiegelt – schlicht weil die russische Seite mehr Verhandlungsmacht besitzt. Noch einmal: Das ist keine Sympathiebekundung, das ist eine nüchterne Beschreibung der Lage.
Gleichzeitig schließen wir in Europa unsere Hochöfen, unsere Aluminiumhütten, unsere Nickelproduktion. Unsere Gegenseite fährt diese Kapazitäten hoch. Und wir reden darüber, wie wir „aufrüsten“ und die Ukraine verteidigen wollen. Womit genau? In einem Abnutzungskrieg, in dem Panzer, Drohnen und Munition entscheidend sind, wird die Seite im Vorteil sein, die diese Dinge tatsächlich produziert – nicht jene, die sie abgeschafft hat.
Die Krise der Legitimität
Damit sind wir beim Kern des Problems: Das europäische Projekt – auf supranationaler Ebene in Brüssel ebenso wie auf nationaler Ebene – verliert zunehmend seine Legitimität. Wenn eine solche politische Ordnung dann in einen militärischen Konflikt hineingezogen wird, der erhebliche ökonomische Kosten verursacht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Unmut der Bevölkerung revolutionär entlädt.
Eine Revolution muss nicht zwingend aus Fackeln und Mistgabeln bestehen. Sie kann auch an der Wahlurne stattfinden – mit Parteien, die der Europäischen Union sehr kritisch gegenüberstehen, wie wir es in der Slowakei, in Tschechien und zunehmend auch in Deutschland und Österreich sehen.
Die Vorstellung vieler europäischer Politiker, sie seien durch institutionelle Arrangements so sicher im Sattel, dass sie von öffentlicher Wut niemals ernsthaft bedroht werden könnten, ist ausgesprochen optimistisch – um nicht zu sagen: naiv.
1988 glaubte kaum jemand, dass die Sowjetunion vier Jahre später nicht mehr existieren würde. Man sprach von Reformen, von Perestroika, aber nicht vom Ende. Diejenigen, die etwas anderes behaupteten, galten als Spinner oder weltfremde Idealisten. 1992 war die Sowjetunion Geschichte.
Damit kein Missverständnis entsteht: Die EU ist nicht die Sowjetunion. Aber die Parallelen sind auffällig. Mit wachsender Desillusionierung der Bevölkerung reagiert man nicht mit politischer Korrektur, sondern damit, die Artikulationsmöglichkeiten für diesen Unmut einzuengen. Parteiverbote, „Demokratie-Schutzschirme“, fragwürdige Wahlprozesse wie in Rumänien, Debatten darüber, bestimmte AfD-Kandidaten in Deutschland von Wahlen auszuschließen – all das dient einem Zweck: die Macht derjenigen zu sichern, die bereits an der Macht sind, und echte politische Veränderungen möglichst zu verhindern.
Historisch betrachtet ist das oft die Vorstufe zu einem revolutionären Ausbruch.
Die deutsche Illusion
Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Diskussion um die „Wiederbewaffnung“ Deutschlands. Es herrscht die Vorstellung, man könne per Knopfdruck die kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 40 Jahre rückgängig machen. Die Deutschen sind – zum Guten wie zum Schlechten – heute so übertrieben pazifistisch, wie sie früher übertrieben militaristisch waren. Das ändert man nicht von heute auf morgen.
Das zeigt sich in der Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht. Junge Männer in Deutschland fragen völlig zu Recht: Ihr habt uns 40 Jahre in Schulen, Universitäten und Medien erklärt, dass Nationalismus schlecht ist, Patriotismus schlecht ist, das Militär schlecht ist – kurz: alles, was eine Gesellschaft braucht, um im Ernstfall nicht nur materiell, sondern auch mental und psychologisch verteidigungsbereit zu sein. Noch 2006, während der Fußball-WM, gab es in Deutschland Kampagnen, bei denen man seine Deutschlandflagge gegen Handtaschen eintauschen konnte, um ja nicht „zu nationalistisch“ zu wirken.
Und jetzt sollen dieselben jungen Männer bereit sein, sich im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine opfern zu lassen? Das ist eine interessante Meinung – aber sie hat mit der Realität wenig zu tun.
Hinzu kommt eine moralische Schieflage, die viele empfinden: Auf der einen Seite haben wir eine Migrationspolitik, bei der junge Männer aus anderen Ländern in unseren Wohlfahrtsstaat einwandern und von diesem leben; auf der anderen Seite sollen junge deutsche Männer Wehrdienst leisten und im Zweifel gegen Russland kämpfen. Mit anderen Worten: Der deutsche Steuerzahler und der deutsche Rekrut sollen Russland bekämpfen – der junge Mann aus Syrien muss weder dienen noch nennenswert Steuern zahlen, lebt aber vom System. Dass viele Deutschen das als ungerecht empfinden, dürfte niemanden überraschen.
Der revolutionäre Ausbruch kann an der Wahlurne kommen – wie der Aufstieg rechtskonservativer Parteien in ganz Europa zeigt. Er kann auf der Straße kommen, wenn die ökonomischen Widersprüche in soziale Unruhen umschlagen. Oder er kommt in dem Moment, in dem ein außenpolitischer Schock – etwa eine Eskalation in der Ukraine – deutlich macht, wie hohl die Machtansprüche Europas geworden sind.
In jedem Fall sollten europäische Politiker nicht darauf vertrauen, dass ihre institutionellen Arrangements sie vor der Wut der Wähler schützen. Historisch ist das eine riskante Wette. Das Ancien Régime erkennt die Revolution nie, bis sie bereits vor der Tür steht.
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