Ralph Schöllhammer: Sind die Sanktionen gescheitert
Wenn Starhistoriker wie Niall Ferguson sprechen, hört die westliche Elite zu. Vor kurzem attestierte er Russland eine überraschende wirtschaftliche Stabilität: Löhne würden steigen, Arbeitslosigkeit existiert kaum, kurz: der Laden läuft. Ferguson, der nicht im Verdacht steht ein Putinfan zu sein, hat dabei teilweise völlig recht.
Seine Meta-Analyse der russischen Situation ist bemerkenswert akkurat: Russlands Wirtschaft ist nicht kollabiert und die westlichen Sanktionen haben nicht zu einer unmittelbaren Systemkrise geführt. Es ist der russischen Führung gelungen, eine funktionierende Kriegswirtschaft zu etablieren. Was wir in Russland sehen, ist nicht primär das Ergebnis russischer wirtschaftlicher Genialität, sondern einer Kriegswirtschaft auf Steroiden. Dieser wird ironischerweise finanziert, und das ist die bittere Pointe, durch genau jene europäischen Moralapostel, die am lautesten „Slava Ukraini” rufen.
Ferguson hat grundsätzlich recht – aber die Details zählen
Fergusons grundsätzliche These ist fundiert. Russlands Rüstungsausgaben liegen bei etwa 7,1% des BIP – Fergusons „über 7%” ist also faktisch korrekt. Die Staatsschuldenquote bei 16,4% des BIP ist tatsächlich dramatisch niedriger als die aller entwickelten westlichen Volkswirtschaften. Das Haushaltsdefizit 2024 von 1,7% des BIP ist praktisch so moderat wie Ferguson behauptete (er nannte 2,4–2,5%, was früheren Prognosen entsprach). In dieser Hinsicht hat Ferguson recht: Russland hat eine beeindruckende fiskalische Stabilität bewahrt, wenn man diese Indikatoren isoliert betrachtet.
Dennoch sollte etwas differenziert werden: Wenn Ferguson von steigenden Reallöhnen spricht und dabei die Zahl von 22% seit Kriegsbeginn nennt, muss auch erwähnt werden, dass die tatsächlichen Reallohnsteigerungen seit Kriegsbeginn bei etwa 15–18% liegen, wobei 2024 allein „nur“ 8,7% reales Wachstum verzeichnete. Dies ist immer noch beeindruckend, aber eben auch nicht 22%. Das verfügbare Einkommen, das Ferguson mit +48% bezifferte, ist tatsächlich um etwa 12–18% kumulativ gestiegen. Die Einzelhandelsumsätze, die angeblich um 28% stiegen, legten in Wahrheit um etwa 7% zu.
Diese Unterschiede sind nicht bloß statistische Pedanterie. Sie offenbaren etwas Entscheidendes über die Natur der russischen „Stabilität”: Die nominalen Zahlen sind deutlich besser als die realen. Die Russen geben nominell mehr aus, aber nicht notwendigerweise, weil sie produktiver werden. Sie geben nominell mehr aus, weil die Inflation von etwa 9% ihren Rubel aufzehrt und weil sie wissen, dass Ersparnisse morgen weniger wert sind. Das ist keine reine Wohlfahrtssteigerung sondern könnte auch der Beginn einer Panik in statistischer Verkleidung sein.
Fergusons größerer Fehler liegt jedoch in der Analyse der Lohnverteilung. Er präsentiert steigende Reallöhne als Beweis russischer Stabilität, ignoriert aber, dass diese Steigerungen extrem konzentriert sind: 22% der russischen Haushalte verzeichneten Einkommenssteigerungen von 50% oder mehr, die sogenanten „Kriegsgewinner” in Rüstung und staatlichen Sektoren. 25% sahen Einkommensrückgänge. 40% erlebten moderates Wachstum zwischen 3 und 25%. Dies ist nicht breite Wohlfahrtssteigerung; dies ist wirtschaftliche Umverteilung durch Krieg. Russlands Fiskalstabilität ist nicht nachhaltig. Die Mehrwertsteuer soll 2026 von 20% auf 22% steigen. Der Schwellenwert für die Mehrwertsteuerpflicht sinkt von 60 Millionen auf 10 Millionen Rubel – etwa 2–3 Millionen zusätzliche Kleinunternehmer werden gezwungen, in das formale Steuersystem zu treten. Die zu erwartenden Mehreinnahmen: 3 Billionen Rubel, etwa 35 Milliarden Dollar. Dies ist nicht Stabilität; dies ist finanzielle Belagerung. Der Kreml pumpt 7,1 Prozent des BIP in die Rüstung – Kapitalvernichtung, nicht Kapitalakkumulation. Panzer, die in der Ukraine ausbrennen. Flugzeuge, die über dem Meer abgeschossen werden. Munition, die in Granaten explodiert. Der Nationale Wohlfahrtsfonds wird auf Kriegsreserve-Niveaus abgebaut. 2025 wird das Defizit etwa 3,2% des BIP erreichen – fast doppelt so hoch wie 2024. Ferguson hatte recht, dass Russland 2024 stabil blieb. Er hätte erwähnen sollen, dass diese Stabilität erodiert.
Fergusons implizite These ist richtig, aber unvollständig
Fergusons zentrale Aussage ist jedoch weiterhin korrekt. Wer gehofft hatte, dass westliche Sanktionen Russland zu unmittelbarer ökonomischer Kapitulation führen würden, wird von Fergusons Daten enttäuscht. Darin hat er absolut recht. Die Sanktionen haben nicht funktioniert, um Russland zum Frieden zu zwingen. Die Sanktionen haben jedoch nicht versagt, weil Russlands Wirtschaft so genial ist. Sie haben versagt, weil der Westen sich selbst sabotiert hat.
Die europäische Paradoxie: Moral predigen, Geschäfte machen
Dies ist die Geschichte, welche in den Medien zu wenig berichtet wird. Während Ursula von der Leyen in Brüssel mit ernster Miene neue Sanktionspakete verkündet, explodieren europäische Exporte nach Zentralasien. Diese Explosion ist kein Zufall sondern zeigt das strukturelle Versagen einer Sanktionspolitik, die nur auf dem Papier beeindruckend ist. Die Realität zeichnet ein anderes Bild: Deutsche Autoexporte nach Kirgisistan sind 2023 um sage und schreibe 5.500 Prozent gestiegen. Nach Kasachstan um 720 Prozent. Nach Armenien um 450 Prozent. Nach Georgien um 340 Prozent. Glaubt man in Berlin und Brüssel wirklich, dass die Hirten in der kirgisischen Steppe plötzlich eine unstillbare Sehnsucht nach deutschen Luxuskarossen entwickelt haben? Dass technologische Unternehmen in Usbekistan plötzlich 18-mal mehr Elektronik brauchen?
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) dokumentierte diese Muster systematisch. Als EU-Exporte sanktionierter Güter nach Russland um etwa 80% sanken, stiegen EU-Exporte derselben Güter nach Zentralasien um zusätzliche 30% relativ zu anderen Gütern. Kasachstan exportierte 2022 plötzlich 18-mal mehr Elektronik nach Russland als vor dem Krieg. Diese Elektronik kommt zu großen Teilen aus Europa.
Die Mechanik ist einfach: Wir liefern die Chips, die Bauteile und die Maschinen, die Putins Kriegsmaschinerie am Laufen halten, einfach über einen Umweg. Kasachstan und Kirgisistan sind Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) – einer Zollunion mit Russland. Was in Bischkek oder Almaty ankommt, kann fast kontrollfrei nach Moskau weitergeleitet werden. Die Grenzkontrolle funktioniert nicht, weil beide Länder Mitglieder desselben Zollverbandes sind. Dies ist keine versteckte Verletzung internationaler Abkommen sondern offizielle Handelspolitik.
Die EU weiß das natürlich. Die britische Regierung warnte Unternehmen in fünf Jurisdiktionen – Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Georgien und Armenien – ausdrücklich vor Sanktionen, wenn sie Russland helfen, westliche Restriktionen zu umgehen. Die EU führte die „No Russia Clause” ein, die Exporteure verpflichtet, Re-Exporte nach Russland in Verträgen zu verbieten. Diese Maßnahmen sind zum Großteil jedoch rein symbolisch. Die tiefere Wahrheit ist noch delikater: Die EU-Exporte von kritischen Dual-Use-Gütern erreichten 2024 einen Wert von 132 Milliarden Euro. Das ist etwa 4% des gesamten EU-Exportwertes. Diese Güter sind nicht alle direkt militärisch. Sie sind industrielle Komponenten – Halbleiter, Sensoren, optische Systeme – die in zivilen Anwendungen verwendet werden. Doch in einer Kriegswirtschaft werden diese Komponenten militarisiert. Ein deutscher Halbleiter in Kasachstan wird über die EAWU nach Russland transferiert und findet seinen Weg in ein Radargerät, einen Bordcomputer, eine Drohnensteuerung.
Kognitive Dissonanz als Staatsräson
Das Verhalten der EU grenzt an Schizophrenie, institutionalisiert auf höchster Ebene. Einerseits droht man Unternehmen mit neuen Compliance-Maßnahmen, der „No Russia Clause”, signalisiert Entschlossenheit. Andererseits hofiert man Zentralasien als neuen strategischen Partner für europäische Energiesicherheit und Rohstoffabhängigkeit. Beim EU-Zentralasien-Gipfel in Samarkand im April 2025 versprach die Europäische Kommission Investitionen von 12 Milliarden Euro. 3 Milliarden Euro für Transport, 2,5 Milliarden Euro für kritische Rohstoffe, 6,4 Milliarden Euro für Wasser, Energie und Klima. Die EU finanziert also die Infrastruktur jener Länder, welche die eigenen Sanktionen torpedieren. Brüssel baut Transportkorridore, die den Handel mit Russland effizienter machen. Die bittere Wahrheit ist: Europa war nie wirklich bereit, den Preis für echte Sanktionen zu zahlen. Wir wollten Russland isolieren – aber bitte ohne auf unsere Exporteinnahmen zu verzichten. Wir wollten die Ukraine unterstützen – aber bitte ohne unsere Geschäftsbeziehungen mit Zentralasien zu gefährden. Wir wollten moralische Führung demonstrieren – aber ohne wirtschaftliche Opfer zu bringen. Das Ergebnis ist eine Sanktionsarchitektur, die auf dem Papier beeindruckend, in der Praxis aber ein Sieb ist.
Die Resilienz Russlands ist nicht das Ergebnis überlegener russischer Wirtschaftspolitik. Sie ist das Ergebnis europäischer Inkohärenz. Ferguson sieht ein stabiles Russland und schließt daraus, dass die Sanktionen versagt haben. Die korrektere Schlussfolgerung wäre: Russland ist stabil, weil es Zugang zu westlichen Technologien, Komponenten und Rohstoffen hat. Und zwar über Umwege, die der Westen selbst schuf und finanziert.
Wenn Niall Ferguson sagt, Russland sei wirtschaftlich resilient, dann hat er recht. Wenn er daraus schließt, dass die Sanktionen versagt haben, hat er auch recht – aber nur, wenn man versteht, dass sie deshalb versagt haben, weil der Westen sie selbst unterwandert hat.
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