Raphael Suchomel: Warum KI uns menschlicher macht
Heute ist Christtag. In Österreich einer dieser seltenen Tage, an denen es einmal nicht um Tempo, Termine und To-do-Listen geht, sondern um Menschen. Um Familie, Freunde, gute Gespräche. Normalerweise versorge ich Sie an dieser Stelle mit aktuellen Entwicklungen rund um Künstliche Intelligenz. Heute möchte ich bewusst einen Schritt zurücktreten und den Blick auf das richten, was wirklich zählt: den Menschen. Und so paradox es vielleicht klingen mag, genau dabei kann uns KI langfristig helfen, menschlicher zu werden.
Heute wird viel über Künstliche Intelligenz gesprochen, oft mit einem Unterton von Sorge. Über Jobverlust, Kontrollverlust, über eine Technik, die uns angeblich überholen könnte. Diese Ängste sind verständlich. Aber sie sind nicht neu. Jede große technologische Umwälzung der letzten Jahrhunderte hat genau diese Debatten ausgelöst. Und fast immer zeigte sich im Rückblick, dass die tatsächliche Wirkung eine andere war als befürchtet.
Denn wenn wir ehrlich sind, verdanken wir unseren heutigen Lebensstandard nicht dem Stillstand, sondern dem Fortschritt. Jede Generation vor uns hat erlebt, dass neue Technologien alte Routinen verdrängen und dadurch Raum für Neues schaffen. Nicht gegen den Menschen, sondern für ihn.
Wenn wir heute mehr Freizeit haben als früher, dann hat das wenig damit zu tun, dass wir plötzlich braver geworden sind, sondern sehr viel mit Technik. Maschinen, Elektrifizierung, Computer und Automatisierung haben unsere Produktivität erhöht, also das, was wir pro Stunde leisten können. Und genau daraus entsteht Wohlstand: mehr Output in weniger Zeit. Historisch ist das klar belegt. In vielen Ländern sind die jährlichen Arbeitsstunden seit dem 19. Jahrhundert deutlich gesunken.
Das ist die große Logik jeder technischen Revolution. Zuerst übernimmt Technologie Routinearbeit. Dann werden Produkte günstiger, Unternehmen effizienter, Staaten wohlhabender. Und irgendwann gewinnt die Gesellschaft die wertvollste Ressource zurück, die es gibt: Zeit. Künstliche Intelligenz folgt exakt diesem Muster, nur mit einer Geschwindigkeit, die wir so noch nicht erlebt haben. Damit kommen wir zur Angstfrage, die ich derzeit am häufigsten höre: Nimmt KI uns die Arbeit weg? Die ehrliche Antwort lautet: Sie verändert Arbeit. Und zwar breit.
KI jenseits von Angst und Hype
Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass KI weltweit rund 40 Prozent der Jobs in irgendeiner Form betreffen wird. Das klingt im ersten Moment nach Bedrohung. Viele denken sofort an Entlassungen. Doch hier liegt ein entscheidender Unterschied, den man verstehen muss: KI automatisiert nicht ganze Berufe, sondern Tätigkeiten.
Die Internationale Arbeitsorganisation kommt in einer großen Analyse zu dem Schluss, dass der häufigere Effekt nicht vollständige Ersetzung ist, sondern Augmentation, also die Unterstützung und Erweiterung menschlicher Arbeit. Auf Deutsch heißt das: KI nimmt uns nicht den Beruf weg. Sie nimmt uns Teile davon ab. Vor allem das Langweilige. Das Wiederholbare. Das Bürokratische. Und genau hier beginnt die Menschlichkeit.
Was digitaler Humanismus wirklich heißt
In diesem Zusammenhang fällt oft der Begriff digitaler Humanismus. Das klingt akademisch, ist im Kern aber einfach erklärt: Technologie soll dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Digitaler Humanismus bedeutet nicht, Technik zu romantisieren. Er bedeutet, klare Leitplanken zu setzen und gleichzeitig die Chancen aktiv zu nutzen. Nicht zusperren, sondern gestalten.
Viele Menschen lernen Künstliche Intelligenz derzeit über spektakuläre Bilder, Videos, Musikstücke oder Deepfakes kennen. Das ist verständlich, weil es sichtbar ist und Emotionen auslöst. Doch genau hier liegt ein Missverständnis. Diese Beispiele sind das Schaufenster der Technologie, nicht ihr eigentlicher Kern. Die wirkliche Revolution passiert leise im Hintergrund, dort, wo KI Prozesse beschleunigt und Arbeit erleichtert. Sie schreibt Protokolle, Berichte und Anträge, sortiert Support-Anfragen und entlastet Hotlines, prüft Rechnungen und Verträge, erkennt Fehler in der Produktion, bevor sie teuer werden, und hilft Ärzten dabei, medizinische Bilder schneller und konsistenter auszuwerten.
Das wirkt unspektakulär. Ist aber entscheidend. Denn genau diese Effizienzgewinne sind der Hebel für Produktivität, Wohlstand und am Ende auch für mehr Zeit im Leben der Menschen. McKinsey schätzt, dass Generative KI jährlich zwischen 2,6 und 4,4 Billionen Dollar an Wert schaffen könnte. Goldman Sachs spricht von einem potenziellen globalen BIP-Schub von rund sieben Prozent. Man muss diese Zahlen nicht als Garantie lesen. Aber man sollte sie ernst nehmen. Denn sie zeigen eines sehr deutlich: Das hier ist keine Spielerei.
Die eigentliche Weihnachtsbotschaft
Wenn man heute am Christtag zusammensitzt, merkt man schnell: Was uns fehlt, ist nicht noch ein weiteres Gadget. Es fehlt uns Zeit. Ruhe. Aufmerksamkeit. Präsenz. Und genau hier liegt mein Optimismus. Wenn KI Routinearbeit übernimmt, Prozesse beschleunigt und Produktivität steigert, dann kann das eine Gesellschaft nicht ärmer an Menschlichkeit machen, sondern reicher, vorausgesetzt wir gestalten diesen Wandel bewusst.
Mehr Automatisierung bedeutet nicht weniger Wert. Es bedeutet weniger Verschwendung von Lebenszeit für das, was niemand liebt: Bürokratie, Copy-Paste, endlose Abstimmungsschleifen, Fehlersuche in Tabellen. KI ist nicht die Maschine, die den Menschen ersetzt. Sie ist die Maschine, die uns den Rücken freihält, damit wir wieder mehr Mensch sein können. Das ist keine naive Utopie. Das ist ein Gestaltungsauftrag.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten, angenehme Festtage und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Ich freue mich darauf, Sie auch im kommenden Jahr weiterhin mit Einordnung, Analyse und verständlichen Einblicken rund um Künstliche Intelligenz zu begleiten.
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