Rudolf Öller: Gothic Modern
Der Besuch von Bildergalerien, insbesondere von Sonderausstellungen, zählt neben Konzertbesuchen zu meinen liebsten Freizeitbetätigungen. Es ist Geschmacksache, welche der Galerien wem am besten gefallen. Zu meinen Favoriten zählen mehrere Häuser, wie etwa das Museum of Modern Arts in New York City, der Prado in Madrid und die Albertina in Wien. Letztere deshalb, weil bisher kein einziger Besuch einer Sonderausstellung vergeblich war.
„Gothic Modern“ war der Grund, warum ich auch diesmal in die Albertina ging, obwohl der Titel der Ausstellung etwas verwirrend klingt. Auf der Internetseite der Albertina ist (bis Jänner 2026) zu lesen: „Die Moderne bedeutete vor allem einen Bruch mit der bis dahin dominierenden akademischen Tradition. Gleichzeitig richteten viele Kunstschaffende den Blick auf eine deutlich weiter zurückliegende Epoche: die Gotik. In der mittelalterlichen Kunst fanden sie Sujets, Motive und Ausdrucksformen, die ihrer eigenen Suche nach Wahrhaftigkeit näherkamen als die an den Akademien vermittelten Normen.“
Tatsächlich haben viele Künstler der Moderne im auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Anleihen bei Motiven der Gotik genommen. Kunsthistorikern ist das wahrscheinlich nicht neu. Mir öffnete dies Tatsache einen neuen Blick auf die Moderne: Bekannte Künstler wie Edvard Munch, Vincent van Gogh usw. haben sich von Lucas Cranach, Albrecht Dürer und anderen inspirieren lassen. Genau darum geht es in der sehenswerten Ausstellung der Albertina.
Nichts Neues
Während ich die zum Teil melancholischen Bilder betrachtete, fiel mir ein, dass sich Künstler fast immer bei Vorgängern bedienen. Komponisten suchen Themen bei verschiedenen Vorbildern genauso wie Autoren der Weltliteratur bei anderen Autoren. Der Ausdruck „konservativ“ bekommt hier eine neue Bedeutung. Kein Spitzenkünstler macht radikal Neues oder gar Revolutionen, sondern entwickelt alte Muster und Ideen weiter. Das gilt auch für die Rock- und Popmusik. Die angeblich so rebellischen Rolling Stones haben mit solider alter Bluesmusik begonnen und diese weiterentwickelt. „Revolutionen“ sind in Wahrheit nur Luftschlösser für Spinner.
Ich habe vor einigen Wochen darauf hingewiesen, dass diejenigen Menschen gerne pauschal als „konservativ“ bezeichnet werden, die zwar wert-, nicht aber strukturkonservativ sind. Als Person mit naturwissenschaftlicher Ausbildung kann ich gar nicht strukturkonservativ sein. Da ich verheiratet bin, Kinder und Enkel habe und das Grab meiner Eltern regelmäßig besuche, bin ich wertkonservativ, und ich bin stolz darauf. Die spießigen Gesellschaftsklempner, die sich selbst für fortschrittlich halten, in Wahrheit aber gar nicht wissen, was das ist, sind unnütze Zeitgenossen. Sie dürfen in ihren Blasen tun, was sie wollen, aber mich und meine Nachkommen sollen sie in Ruhe lassen.
Auf den Schultern von Riesen
Der große Physiker und Mathematiker Isaac Newton, der zum Leidwesen der Schüler die Mathematik in die Physik einführte, sagte einmal: „If I have seen further it is by standing on the shoulders of giants.“ („Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand.“) Er meinte damit, dass kein Wissenschaftler jemals das Rad neu erfunden, sondern auf der Arbeit von großartigen Vorgängern aufgebaut hat. Genau das machen auch Künstler, wobei sich Genies von uns gewöhnlichen Bürgern dadurch unterscheiden, dass sich das von ihnen aus dem Alten destillierte Neue als besonders nützlich oder harmonisch herausstellt.
Der italienische Astronom und Physiker Galileo Galilei hat das Fernrohr nicht erfunden, wie oft behauptet wird. Er hat aus einem auf Jahrmärkten verkauften Spielzeug, das als Fernrohr kaum taugte, die Linsen ausgebaut, feiner geschliffen und neu zusammengebaut. Damit hat er Gebirge auf dem Mond, Flecken auf der Sonne und Monde des Jupiters entdeckt.
Der deutsche Biologe Matthias Schleiden wollte wissen, was in den Zellkernen passiert. Im Mikroskop konnte er nichts sehen. Da hatte er eine Idee. Die Chemiker hatten im 19. Jahrhundert gelernt, organische Substanzen herzustellen, die in der Natur nicht existierten. Viele davon waren auffallend farbenprächtig, was damals die Mode über Nacht veränderte. Schleiden hoffte, er würde eine Substanz finden, mit denen man Strukturen im Zellkern färben könnte. Tatsächlich fand er nach mühevoller Suche einen der neuen Farbstoffe. Die angefärbten Fäden im Zellkern nannte er „Farbkörper“, wir kennen sie unter der griechischen Übersetzung „Chromosomen“.
Stille Nacht
Zu Weihnachten 1818 war wieder einmal die Orgel in der kleinen Kirche von Oberndorf bei Salzburg kaputt. Kaplan Josef Mohr meinte, ein neues Lied müsse her. In irgendeinem alten Kirchenbuch fand er den holprigen lateinischen Text „Alma nox, tacita nox, omnium silet vox, sola virginum nunc beatum …“ Mohr wollte den einfachen Leuten kein lateinisches Lied vorsetzen und übersetzte den Text etwas frei ins Deutsche. So entstand aus „Alma nox, tacita nox“ das bekannte „Stille Nacht, heilige Nacht.“
Bewährtes Altes als Basis für Neues zu verwenden, ist eine zutiefst bürgerlich-konservative Arbeitsweise. Den Vorwurf, konservativ zu sein, kann man folglich mit stoischer Gelassenheit ertragen, zumal die meisten Heißluftbläser gar nicht wissen, was das ist. Begriffe so lange gedankenlos zu verwenden, bis sie hohl sind, ist ein Privileg der Armen im Geiste.
In diesem Sinne wünsche ich allen keine frohen Festtage, sondern fröhliche Weihnachten. Den Juden ist ein freudiges Channuka-Fest zu wünschen. Sollte mir jemand zu Silvester einen „guten Rutsch“ wünschen, dann lächle ich insgeheim, denn dieser Ausdruck ist nichts für Antisemiten. Der „Rutsch“ kommt von „Rosch ha-Schana“. Das ist der jüdische Neujahrstag.
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